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Technikwenden in Vergangenheit und Zukunft

Quelle "Fotomontage id3d Berlin"

Technikgeschichtliche Jahrestagung des VDI

Am 2. April 1928 startet der Berliner Kutscher Gustav Hartmann mit seiner Droschke und dem Wallach Grasmus eine rund 1000 km lange Tour nach Paris. Als er am 4. Juni die französische Hauptstadt erreicht, ist er eine Berühmtheit; die Pariser bereiten ihm einen triumphalen Empfang. Dennoch ist Gustav Hartmann, der „Eiserne“, als der er uns bis heute bekannt ist, eher eine tragische Figur. Mit seiner legendären Fahrt will er gegen den zunehmenden Autoverkehr in Berlin und die dadurch ausbleibenden Fahrgäste protestieren; eine Entwicklung, die auch sein Gewaltparcours natürlich nicht stoppen wird. Der Eiserne Gustav ist Opfer einer „Technikwende“ geworden; einer disruptiven technischen Entwicklung, die parallel von gewaltigen gesellschaftlichen und sozialen Umbrüchen begleitet ist.

Noch um 1900 arbeiten in Berlin 51.200 Pferde, das heißt, 37 Einwohner der Reichhauptstadt teilen sich ihren Lebensraum mit je einem Pferd. Diese Pferde werden von tausenden Fuhrleuten gelenkt, weitere Tausende sind täglich mit ihrer Pflege und Unterbringung sowie dem Wegräumen von Exkrementen und Kadavern beschäftigt. Im Umfeld großer Städte sind bis zu 50 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Versorgung städtischer Pferde mit Heu und Hafer vorbehalten. Kein Zweifel, die „Pferde-Infrastruktur“ war eine wirtschaftliche Säule damaliger Großstädte. Dreißig Jahre später hat sich das Bild vollkommen gewandelt. Automobile bestimmen den Straßenverkehr. Industrieproduktion, Dienstleistungen, Stadtplanung, Arbeits- und Sozialbeziehungen und selbst die Außenpolitik der Industriestaaten sind zunehmend auf die „Bedürfnisse“ des neuen Fortbewegungsmittels und die Zurverfügungstellung von Treibstoffen ausgerichtet.

Derartig radikale „Technikwenden“ und Szenarien disruptiver Technologieentwicklungen bestimmen heute mehr denn je gesellschaftliche Diskurse. Wie bei der notwendigen „Verkehrswende“, der längst noch nicht vollendeten „Energiewende“ oder dem gegenwärtigen breiten Übergang zu digital basierten Technologien wird Technik als eine, oder gar die bestimmende Triebkraft des gesellschaftlichen Wandels konstruiert. Die Sichtweisen auf diese Prozesse sind fast immer hoch konträr; von den einen begrüßt, um etwa die Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft bewerkstelligen zu können, von den anderen abgelehnt, weil neuartige Technologien und Verfahren vertraute Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen aufzulösen scheinen. Zugleich kennt die Technikgeschichte aber nicht nur zahlreiche passierte, sondern auch erhoffte, postulierte, befürchtete oder gar verpasste und gescheiterte oder unvollendete „Technikwenden“. Erinnert sei etwa an die Ausrufung eines nie umfassend realisierten „Atomzeitalters“ in den 50er Jahren oder der wohl kaum nachhaltig zu nennenden „Grünen Revolution“ ab den 60er Jahren.

Die Herausforderungen durch technikinduzierte Veränderungen und Brüche sind gesamtgesellschaftlich. Sie betreffen jedoch die Ingenieure in besonderem Maße, sind diese doch nicht nur wichtige Treiber neuartiger Technologien, sondern auch

Akteure in der Umsetzung, und da, wo Innovationen „traditionelle“ Technologien verdrängen, letztlich auch Betroffene. Grund genug für den VDI-Ausschuss Technikgeschichte, seine diesjährige Jahrestagung unter das Motto „Technikwenden“ zu stellen.

Die Konferenz „Technikwenden in Vergangenheit und Zukunft“ am 27. und 28. Februar in Berlin führte der VDI in Kooperation mit dem Fachgebiet Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin durch. Zentrale Fragestellung der international besetzten Konferenz war, inwieweit Zäsuren durch Technik zu einem fundamentalen Wandel von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur führten bzw. führen sollten oder sollen. Hinterfragt wurde ebenfalls, inwieweit das Bild der „Wende“ zur Beschreibung eines radikalen technischen Wandels geeignet ist, wann und wie es machtpolitisch verwendet wurde und schließlich, ob und warum es sich bei den reklamierten „Wenden“ auch tatsächlich um fundamentale Brüche handelte.

Dass die historische Rückschau auf „Technikwenden“ sich keineswegs in der kritischen Reflexion durch Historiker*innen erschöpft, wurde eindrucksvoll durch das hochkarätig besetzte Podium demonstriert. Über das Potential von Technikgeschichte für die Gestaltung künftiger Technikwenden diskutieren Prof’in Dr.-Ing. Christine Ahrend, Vizepräsidentin der TU Berlin; Dr. Marc Bovenschulte, VDI/VDE-IT, Direktor des Institute for Innovation and Technology (Berlin); Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn, Wissenschaftlicher Direktor Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (Potsdam) und Prof. Dr. Helmuth Trischler, LMU & Deutsches Museum, Direktor des Rachel Carson Center for Environment and Society (München) unter der Moderation von Prof. Dr. Hans-Liudger Dienel, TU Berlin & Berliner Forum für Integrative Wissenschafts- und Technikforschung. Hinterfragt wurde insbesondere, inwiefern die technikhistorischen Beispiele von Technikwenden in Form von einer „useable past“ Orientierungswissen für die aktuellen Debatten um die Technikgestaltung der Zukunft (z. B. die anvisierte Energiewende oder die Verkehrswende) liefern können und wie der Austausch zwischen Technikgeschichte und Öffentlichkeit bzw. Politik gelingen kann. Technikgeschichte kann, so der derzeit von vielen Technikhistoriker*innen vertretene Anspruch, wichtige Aufschlüsse für die Technikgestaltung der Zukunft, ihre Komplexität, Herausforderungen – und Fallstricke – geben. In der Politikberatung und in zahlreichen Entscheidungsprozessen von Wirtschaft und Industrie könnte und sollte technikhistorisches Wissen somit Orientierung und Hilfe geben.

Dr. Olaf Strauß, Technikgeschichte beim VDI Bezirksverein M-V

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