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Die Europäische Union und der Krieg in der Ukraine – online-Live-Gespräch mit dem Bremischen EU-Abgeordneten Dr. Joachim Schuster am 27.10.22

Über den Krieg in der Ukraine brachte Dr. Joachim Schuster (MdEP) zum online-Gespräch beim VDI viele Details mit, die wir im Dauergewitter der Nachrichten so nicht in den Medien wahrnehmen. Der VDI-Landesverband Bremen hatte dazu eingeladen, um den Zugang zu Informationen aus erster Hand und die Gelegenheit zur Diskussion zu geben.
Joachim Schuster erinnert sich lebhaft daran, wie alle Staaten überrascht waren vom russischen Einmarsch in der Ukraine. Und das obwohl Putin schon zuvor schrittweise verschärfte Maßnahmen umgesetzt hatte - Krieg in Georgien, in der Ostukraine, Bruch des Minsker Abkommens. In EU-Kreisen ist man sich sicher, dass es eine Lösung nicht auf dem Schlachtfeld geben wird. Ukraine wird nicht militärisch siegen, dafür hat Russland zu viele Ressourcen. Russland nutzt bereits jetzt sein Eskalationspotential, wie man an der Zerstörung der Infrastruktur sieht.
Positiv ist zu verbuchen, dass Putin es nicht geschafft hat, Europa zu spalten. Was auch bitter nötig ist, denn besonders die baltischen Staaten machen sich große Sorgen. Dort gibt es große russische Minderheiten und Putin sagte schon öfter, dass er diese schützen will, was für das Baltikum eine permanente Bedrohung bedeutet.
Trotzdem darf die NATO nicht Kriegspartei werden, die Folgen wären völlig unkontrollierbar. Diplomatie ist auch nicht ganz vergeblich, was die Bemühungen um das Atomkraftwerk in Saporischschja gezeigt haben. Es wird darauf ankommen, ob große Staaten wie China, Indien, Brasilien irgendwann doch gegenüber Russland intervenieren. Solche Bemühungen nimmt man in der Öffentlichkeit zunächst überhaupt nicht wahr, denn Diplomatie läuft immer erst nur im Hintergrund an, weil sonst logischerweise alle Ansätze sofort zunichte gemacht würden.
Aus dem Publikum kam die Frage, ob Putin ÖL und Gas jetzt einfach woanders hin liefert. Das ist nur teilweise so, denn tatsächlich hatten ganz viele Länder den Energieimport gar nicht eingeschränkt. Die Energiesanktionen waren sinnlos bis kontraproduktiv. Eine teilweise Mindernachfrage ist für Russland durch Preissteigerungen allemal überkompensiert worden.
Getreideexporte finden statt, leider aber nicht in die bedürftigsten Staaten, sondern in die zahlungskräftigsten. Die Schiffe stauen sich zwar teilweise im Schwarzem Meer, aber eine komplette Verhinderung des Exports durch Russland ist nicht feststellbar.
Hätte Fracking als Energiequelle ein ernst zu nehmendes Potenzial, so wie es mit neuer Technologie ohne Verseuchung des Grundwassers möglich ist, wie steht die EU dazu? Selbst wenn alle Bedingungen hierfür erfüllt wären, kurzfristig ließe sich das gar nicht realisieren. Die allgemeine Energieknappheit wird auch noch im übernächsten Winter bestehen.
Bisher erfolgten viele Entscheidungen und Maßnahmen europäisch einheitlich. Aber der Streit wird aktuell zunehmend offen ausgetragen, auch zwischen Scholz und Macron. Massive Streitigkeiten gibt es in der EU um einige Punkte: Das militärische Vorgehen soll gesteigert werden, das wird v.a. von Polen gefordert. Differenzen gibt es wegen der Energiepreiskrise. Die Hälfte der Mitgliedsstaaten will einen gemeinsamen Energiepreisdeckel, Deutschland will das nicht, weil sonst kein Gas mehr nach Europa geliefert werden würde. Die OPEC hatte zuletzt schon ihre Ölförderung gedrosselt, um den Preis hochzudrücken. Die Stimmung in Brüssel ist inzwischen massiv gegen Deutschland, auch wenn die meisten Kritikpunkte sachlich nicht gerechtfertigt sind. Es ist dringend notwendig, wieder europäisch solidarisch vorzugehen.
Wie erreicht man eine diplomatische Lösung, der auch die Ukraine zustimmen kann, also keinen Diktatfrieden zu Lasten der Ukraine, aber mit Verbindlichkeit für alle Parteien? Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind nötig. „Blauhelmtruppen“ unter chinesischer Beteiligung? Reparationszahlungen von wem? Nach diesem Krieg wird eine politische Eiszeit ausbrechen. Mit Russland muss man irgendwann einmal das wieder hinkriegen, was nach dem zweiten Weltkrieg mit Deutschland gelungen ist, internationale und europäische Einbindung und Diplomatie. Putin führt Russland nicht allein, aber man nimmt auch keine ernsthafte Opposition wahr. Vielleicht kämen nach ihm noch radikalere Köpfe an die Macht. Einen Regimewechsel von außen wird es in Russland jedenfalls nicht geben, das hatte ja schon in dem kleinen Afghanistan nicht funktioniert.
Diplomatie muss sein, Europa zusammenhalten und die Moral in Deutschland stützen.


Bericht: Anja Riemer

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