„Es ist mehr als nur die Doktorurkunde in der Hand zu halten“
Alle zwei Jahre werden junge Nachwuchswissenschaftlerinnen für besondere Leistungen mit dem Dr.-Wilhelmy-VDI-Preis geehrt. 2023 war eine der Preisträgerinnen Dr.-Ing. Katharina Ritzer, die eine Methode zur Identifikation und Erschließung von Verbesserungspotenzialen in der standortverteilten Produktentwicklung entwickelt hat: EDiT - Enabling Distributed Teams.
Katharina Ritzer kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Trier und hat schon relativ früh im familiengeführten Hotel-Restaurant gemerkt: “wie wichtig es ist, wenn man ein gutes Team hat und gut miteinander zusammenarbeitet”. Inspiriert durch ihren älteren Cousin, studierte Katharina Ritzer Maschinenbau in Karlsruhe. Auch nach dem erfolgreichen Masterstudiengang hatte sie noch immer das Bedürfnis, ihr Wissen weiter zu vertiefen und zu promovieren. Nach der abgeschlossenen Promotion am IPEK – Institut für Produktentwicklung des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat die engagierte junge Frau in den letzten 12 Monaten zudem ihr “Familienprojekt” gestartet.
Die Fragestellung ihrer Promotion
Sie startete mit der Überlegung, dass es zwar viele Entwicklungsmethoden, wie das einfache Brainstorming, die FMEA oder die Reizbildmethode gibt, diese aber noch nicht für die Anwendung im virtuellen Raum geeignet sind. Die Rückmeldungen durch die Unternehmen zeigten jedoch wenig Interesse: man treffe sich vor Ort im Kreativitätslabor und brauche nichts weiter. Also was nun?
Aber dann kam COVID-19… und gute Zusammenarbeit über verschiedene Standorte hinweg war quasi über Nacht relevanter denn je.
Die Rückmeldungen aus der Industrie wurden positiver. Viele Unternehmen mussten branchenübergreifend ihre bisherigen standortgebundenen Arbeitsprozesse überarbeiten und anpassen. Neben verschiedenen Standorten kam jetzt auch noch das Homeoffice hinzu, was die Relevanz der Zusammenarbeit außerhalb eines gemeinsamen Büros in den Vordergrund stellte. Bisher angewandte Methoden scheiterten an der Umsetzbarkeit aber auch schon der Kontakt zwischen verschiedenen Unternehmensstandorten gestaltete sich zunehmend schwieriger. Projektpläne konnten nicht ohne weiteres abgestimmt werden, keiner wusste, wer woran gerade arbeitete und technische Schwierigkeiten kamen noch hinzu. Der Fokus rückte zunehmend auf digitale Formate. “Deshalb habe ich mir nicht weiter verschiedenste Entwicklungsmethoden für die Zusammenarbeit an unterschiedlichen Standorten angeschaut, sondern habe mich erstmal auf die grundlegenden Herausforderungen der neuen Art der Zusammenarbeit fokussiert”, beschreibt Ritzer ihren Entschluss.
Ein simples Beispiel für die Auswirkungen von Corona: Das Treffen an der Kaffeemaschine fällt aus, mit direkten Auswirkungen auf die Arbeitsmotivation und den Austausch. Plötzlich bekommt man nicht mehr mit, woran die Kolleginnen und Kollegen arbeiten und was deren Tag ausmacht. “Online-Kaffeerunden” wurden gegründet, aber die kamen nicht an die reale Begegnung heran.
Besonderheit im Maschinenbau
Noch schwieriger ist eine Lösung für gutes Zusammenarbeiten, wenn es an das Entwickeln von Produkten und damit z.B. auch an das Herstellen von Prototypen geht. Man kann nicht einfach ans Werk oder ins Nebenbüro fahren. So steht man bei der Produktentwicklung vor einigen Hürden, sei es das gemeinsame Arbeiten an einem Prototyp oder das Aufbauen und Nutzen eines Wissensmanagements.
"Das war für mich der Moment, an dem ich merkte, dass ich etwas entwickeln möchte, dass den Menschen in einem Team hilft, herauszufinden, wie man auch mit ganz einfachen, kleinen Änderungen einen großen positiven Effekt auf die Zusammenarbeit und damit auch auf das Ergebnis in der Produktentwicklung erzeugen kann", schildert Katharina Ritzer ihre Motivation.
Durch die Pandemie getrieben, stieg das Interesse an ihrer Promotionsarbeit und der Anwendung einer Methode, die universell einsetzbar ist und auch digital funktioniert!
"In erster Linie habe ich Wert daraufgelegt, etwas an die Hand zu geben, wofür es keinen extra Coach braucht und direkt im Team angewendet werden kann - auch aus dem Grund das finanzielle Mittel bisher selten für die Verbesserung der Zusammenarbeit ausgegeben wurden. Deshalb habe ich die Methode in einfachen Schritten definiert und anhand eines Leitfadens zusammengefasst."
Das richtige Potential in der Zusammenarbeit entdeckt man vor allem dann, wenn man sich im Detail damit befasst, was in der Zusammenarbeit im Team gut läuft, was weniger gut läuft und wo versteckte Probleme und daraus folgend Kosten anfallen. Gerade das Thema Zahlen, Daten, Fakten ist in der Zusammenarbeit sehr wichtig. Die Zeit, die man an einem Arbeitstag investieren kann ist begrenzt, deshalb muss man sich fragen, welche Dinge in der Zusammenarbeit unnötige Kosten verursachen, und ob man diese verringern bzw. optimieren kann.
"Dabei habe ich schnell gemerkt, wie vor allem auch kleine Änderungen wirklich viel bewirken können."
Was waren die größten Herausforderungen?
Ganz klar: die Digitalisierung, die menschliche Komponente und die Pandemie.
Kaum ein Unternehmen war am Anfang der Pandemie so weit, funktionsfähige Hardware, Software oder überhaupt Strukturen bereitzustellen, um standortverteilt zusammenzuarbeiten. Ganz wenige erfüllten diese Grundvoraussetzungen.
Bei der menschlichen Komponente bemerkte Ritzer vor allem typische Verhaltensmuster, die bei Änderungsprozessen auftreten: "Manche wollen Veränderungen und manche wollen eben keine. Und diese Personen hat man beide in einem Team. Die Herausforderung ist es, alle an einen Tisch zu setzen und einen Weg zu finden, ein gemeinsames Ziel zu definieren und alle mit Motivation an Bord zu haben, was zu verändern."
"Eines der größten Probleme war jedoch, dass niemand für die Verbesserung der Zusammenarbeit Geld bezahlen möchte. Jeder Veränderungsprozess kostet erstmal Geld und deshalb war die Herausforderung, diesen Mehrwert, der durch die Veränderung erzeugt wird, messbar zu machen." So wurde der größte Anteil ihrer Forschung auf die Zahlen, Daten und Fakten gelenkt, um genau das zu erreichen.
Die Umsetzung "Erst im Kleinen und dann immer größer werdend"
Um den Herausforderungen zu begegnen und diese zum Teil zu umgehen, hat Katharina Ritzer diesen Prozess messbar gemacht und Schritt für Schritt eine entsprechende Methode entwickelt. “Einer der wichtigsten Punkte war, im Kleinen anzufangen”, um nicht mehrere Jahre eine Methode in einem Forschungsprojekt zu entwickeln, die einmal getestet wird und dann in der Schublade verschwindet. "Deshalb habe ich einen Forschungsansatz gewählt, der das Ganze auch iterativ betrachtet. Wir haben uns erstmal das Problem angeschaut, um dann die einfache Frage zu stellen: Was kann man ändern?” Anschließend wurde gemessen, was verbessert wurde und in kleinen Runden iterativ nachgebessert. Letztendlich machte das den Erfolg ihrer Methode aus: “es funktionierte wie ein Domino-Effekt: In einem Team konnte gezeigt werden, was es Gutes bewirkt, und dann ist das auch auf das nächste Team übergeschwappt und so hat sich die Methode verbreitet und weiterentwickelt."
In einem Team wurde beispielsweise gemessen, wie viel Zeit verloren geht, wenn ein virtuelles Meeting verspätet startet. Man kann nicht mal eben schnell rufen und dann kommen alle. Diesen Schmerz galt es darzustellen und zu beweisen: Wie viel Zeit geht verloren, und was verursacht das an versteckten Kosten?
Bedeutung der Ergebnisse für den Technologiestandort Deutschland
Einer der wichtigsten Aspekte ist, dass die Methode nicht nur für eine kleine Nische oder Sparte anwendbar ist, sondern sie unabhängig vom Kontext oder dem Produkt, das entwickelt wird, von den Menschen im Team anwendbar ist. Außerdem wird durch die Methode sichergestellt, dass man nicht nur einmalig etwas verändert, sondern dass das Mindset dafür geschaffen wird, dass eine Veränderung kontinuierlich und immer wieder geschieht.
Aber wie komme ich jetzt an diese Methode? Kein Problem - auch die Zugänglichkeit der Methode wurde hier beachtet. In der Dissertation findet man einen Link, durch den man Zugriff auf ein Miro Bord hat. Dadurch kann auf jegliche Unterstützungs- und Hilfsmittel zugegriffen werden. Durch einen Leitfaden zur Methodenanwendung kann man sich schnell einlesen. Danach kann die Methode direkt im Team umgesetzt oder z.B. in ein Scrum Retro Event eingebracht werden.
Schauen wir uns kurz die Methode etwas genauer an. Der Leitfaden umfasst unterschiedliche Schritte, zu denen Themen wie die Analyse der Situation, die Problemfindung, die Suche von Lösungsmöglichkeiten und dann die Umsetzung, sowie die Messung am Ende gehören.
Wie kann ich den Erfolg messen?
In einem Portfolio wurden mögliche Messgrößen (qualitativ/quantitativ, objektiv/subjektiv) aufgezeichnet. Für jede Maßnahme sollte jedes Feld einmal ausgefüllt sein, sodass alle Felder abgedeckt sind. “Die subjektiven Größen findet man immer sehr schnell, die quantitativen sind herausfordernder - vor allem dabei ist dann auch Kreativität gefragt. Wenn man sich jedoch ein Stück reinfuchst, ist es schon interessant, auf welche Messgrößen man kommt”, schildert Ritzer.
Ihre Lieblingsmessgröße waren die Lacher in einem Meeting. Durch ein kleines Warmup am Anfang vom Daily, konnte man schon viel bewirken. Innerhalb von drei Monaten haben sich die Lacher verzwölffacht. Und was einige Lacher für Auswirkungen auf ein Meeting oder auch ein Team haben kann, ist schon enorm. Ein gestiegener Teamzusammenhalt und die bessere Stimmung im Team sind nur zwei beispielhafte Effekte.
"Was ich auch während meines Studiums und meiner Promotion gelernt habe, ist, dass der Maschinenbau oft immer nur als „dieses Praktische zum Anfassen“ verstanden wird. Aber meistens ist es nicht nur das, sondern auch die Methoden, Prozesse und Tools, die man braucht, um zu entwickeln. Und die sollte man auf gar keinen Fall vernachlässigen!"
Größte Erfolge?
"Der größte Erfolg für mich war meine persönliche Entwicklung. Vor sechs Jahren hätte ich niemals gedacht, dass ich diesen Weg gehen und dabei so viel Spaß haben werde. Das eine oder andere Tränchen ist in den ersten ein, zwei Jahren natürlich geflossen, aber am Ende habe ich gesehen, wie viel Einfluss meine Arbeit haben kann.”
Dabei betonte sie, dass man sich auch als Frau im Maschinenbau gut behaupten kann, indem man offen in die Teams geht und durch Reflexion der eigenen Rolle, die persönliche Entwicklung stets vorantreiben.
“Wie ich mich während des Prozesses entwickelt habe, war für mich schon ein großer Erfolg und dass es am Ende auch noch mit einem Preis ausgezeichnet wurde, das war für mich die Kirsche auf der Sahnehaube."
Wie geht die Reise weiter?
Aktuell arbeitet Dr.-Ing. Ritzer in der Forschung und der Industrie: in Hamburg als Oberingenieurin am ISEM - Institut für smarte Entwicklung und Maschinenelemente der Technischen Universität Hamburg (TUHH) und ist gleichzeitig über ein Projekt bei TRUMPF SE + Co. KG als Agile Coach tätig. So verknüpft sie Theorie und Praxis. "Man kann natürlich auch direkt alleinig in der Forschung tätig sein, aber ich empfand es als wichtig, auch immer wieder zu sehen, was gerade aktuelle Herausforderungen der Entwickelnden sind. Das zu kombinieren, macht unglaublich Spaß und die Möglichkeit habe ich bekommen", erläutert sie im Interview.
Katharina Ritzer (ehemals Dühr) schloss ihre Promotion im Dezember 2022 ab und startete bereits im Januar für vier Monate in den neuen Job in Hamburg. "Mir war es von Anfang an wichtig meine aktuelle Situation zu kommunizieren, dass ich trotz Schwangerschaft großes Interesse habe, schon jetzt in der Position zu starten und auch früh wieder in den Job in Teilzeit einzusteigen. Das dies unterstützt wird, ist nicht selbstverständlich.", blickt sie zurück. Der aufgeschlossene und familienorientierte Vorgesetzte am Institut (Prof. Dr-Ing. Nikola Bursac) und ihr Partner spielten da eine sehr große Rolle, um es möglich zu machen.
"Für mich geht die Reise erstmal so weiter. Ich wollte mir gerne Forschung und Industrie anschauen, um zu entscheiden, wo ich hingehe. Aber es ist nicht immer eine Entweder-oder-Entscheidung. Für mich gibt es keine Forschung, ohne auch in der Praxis zu agieren. Beides miteinander zu verknüpfen, ist eine großartige Möglichkeit."
Durch ihre Auszeichnung motiviert wurde Katharina Ritzer VDI-Mitglied, unterstützt das Women Empowerment im Maschinenbau und bringt sich in die Community ein.
Autorin: Eileen Knoßalla
Dr.-Ing. Katharina Ritzer bearbeitete ihre Promotion am IPEK – Institut für Produktentwicklung am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Während ihrer Promotion leitete sie die Forschungsgruppe Entwicklungsmethodik und -management sowie ein Projekt zu New Work in der Wissenschaft. Gemeinsam mit Ihrer Forschungsgruppe untersuchte sie anhand realer Praxisbeispiele und industrienahen Projekten systemnah Methoden zur effektiven und effizienten Produktentwicklung und fokussierte dabei selbst Methoden zur Verbesserung der standortverteilten Zusammenarbeit. Durch ihre bisherigen Stationen sowie diverse FuE- und Beratungsprojekten im internationalen Umfeld verfügt sie über die Fähigkeit, methodische Lösungsansätze in der technischen Systementwicklung auf spezifische Problemstellungen zu übertragen. Dies verfolgt Frau Ritzer seit Januar 2023 als Oberingenieurin am ISEM – Institut für smarte Entwicklung und Maschinenelemente an der Technischen Universität Hamburg (TUHH).