Mehr als Komfort und ein Gewinn für alle

Bei Barrierefreiheit denkt man schnell an Menschen mit Behinderung. Dabei geht sie uns alle an, denn ob stufenlose Zugänge, gut sichtbare Markierungen oder intelligente Grundrissplanungen, wir alle profitieren von guter Planung. Sie erleichtert uns das Leben in unterschiedlichsten Lebenslagen: Eltern mit Kinderwagen, Seniorinnen und Senioren oder Menschen mit temporären Einschränkungen. Dennoch gibt es große Defizite in der Umsetzung, vor allem im Wohnungsbau. Warum Barrierefreiheit kein Luxus, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, erklärt die Expertin Stephanie Dietel im Gespräch mit dem VDI.

VDI: Was bedeutet eigentlich Barrierefreiheit und warum ist dieses Thema gerade jetzt so relevant?
Stephanie Dietel: Barrierefreiheit bedeutet, die gebaute Umwelt so zu gestalten oder umzugestalten, dass sie von möglichst vielen Menschen selbstständig genutzt werden kann. Oft denkt man dabei zuerst an Rollstuhlfahrer, aber Barrierefreiheit betrifft auch Menschen mit sensorischen oder kognitiven Einschränkungen. Letztere stellen eine besondere Herausforderung dar, da ihre Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind und einheitliche bauliche Standards schwer zu definieren sind.
Für Menschen mit Behinderungen ist Barrierefreiheit eine unabdingbare Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und damit für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben.
Für viele andere Menschen ist Barrierefreiheit darüber hinaus ein absoluter Mehrwert, denn sie kommt z.B. Eltern mit Kinderwagen oder generell mit Kleinkindern oder älteren Menschen zugute. Eigentlich kann jeder von uns einmal in die Situation kommen, in der er von einer barrierefreien Umwelt profitiert, und sei es nur vorübergehend.
Barrierefreiheit ist also ein Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.
VDI: Das heißt, es ermöglicht Teilhabe und macht das Leben komfortabler.
Stephanie Dietel: Für viele Menschen ist Barrierefreiheit unverzichtbar, für andere ein Komfortgewinn. Laut Statistik gibt es rund 7,8 Millionen Menschen mit einer registrierten Schwerbehinderung, vermutlich noch mehr, wenn man die Dunkelziffer berücksichtigt. Das sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommt eine alternde Gesellschaft: Über 25 % der Bevölkerung sind älter als 65 Jahre. Die Relevanz von Barrierefreiheit liegt also auf der Hand. "Barrierefreiheit geht uns alle an - sie ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit".
Damit wird die Relevanz für unsere Gesellschaft deutlich. Denn es handelt sich hierbei nicht nur um einen Aspekt des Bauens, sondern es geht um eine gesellschaftspolitische Gesamtaufgabe, die wir haben und für die die Architektur bzw. die gebaute Umwelt die Grundlage bildet.
VDI: Wie beeinflusst der demografische Wandel das Thema? Unsere Gesellschaft wird älter, damit steigt die Nachfrage nach barrierefreiem Wohnraum. Gleichzeitig gibt es einen Fachkräftemangel im Pflege- und Gesundheitssystem.
Stephanie Dietel: Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass viele barrierefreie und möglichst auch rollstuhlgerechte Wohnungen gebaut werden. Denn damit leisten wir einen wichtigen Beitrag, um den Verbleib in den eigenen vier Wänden zu sichern oder zumindest den Umzug in ein Pflegeheim hinauszuzögern.
Wichtige Faktoren sind ein Mindestmaß an Bewegungsflächen, ebenso wie die Anpassbarkeit der Wohnung, insbesondere anpassbare Bäder mit bodengleichen Duschen und Haltegriffen. Wichtig ist zudem eine barrierefreie Erschließung der Wohnung, also stufenlose Zugänge und Aufzüge.
Man sollte auch darauf achten, dass Fenster den Blick in die Umgebung ermöglichen, weil es häufiger vorkommt, dass ältere Menschen nicht so oft die Wohnung verlassen können, dass sie aus gesundheitlichen Gründen, vielleicht auch vorübergehend, im Bett liegen oder dauerhaft gepflegt werden müssen.
VDI: Gibt es ausreichend barrierefreien Wohnraum?
Stephanie Dietel: Nein, der Anteil ist noch zu gering, vor allem in den Städten. Zunächst einmal muss man unterscheiden zwischen barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen. Barrierefreie Wohnungen haben geringere Anforderungen an die Abmessungen von Bewegungsflächen, Durchgangsbreiten und Ausstattungen als rollstuhlgerechte Wohnungen. Sie ermöglichen in vielen Fällen die Nutzung mit einem Rollator, sind aber für die selbständige Nutzung mit dem Rollstuhl in der Regel nicht geeignet.
Die Vorschriften zum Wohnungsbau sind in den Bundesländern sehr unterschiedlich: Mal muss nur eine Etage mit Wohnungen barrierefrei sein, mal wird eine bestimmte Quote an barrierefreien und rollstuhlgerechten Wohnungen verlangt. Teilweise ist die Herstellung von rollstuhlgerechten Wohnungen auch komplett an die Wohnraumförderung gebunden.
Wir gehen hier in Nordrhein-Westfalen zwar insofern recht weit, dass alle Wohnungen, die gebaut werden, barrierefrei sein müssen, aber sie müssen nicht alle mit einem Aufzug erreichbar sein. Das spart auf der einen Seite Baukosten geht aber auf der anderen Seite stark zu Lasten der barrierefreien Erschließung. Es gibt also einen ziemlichen Wildwuchs. Diese Uneinheitlichkeit erschwert die Planung und Umsetzung.
VDI: Wo besteht der größte Nachholbedarf?
Stephanie Dietel: Barrierefreiheit hat sich in den letzten Jahren etabliert, aber in der Umsetzung gibt es noch Defizite. Ein Problem besteht zum Beispiel darin, dass Bauanträge oft genehmigt werden, obwohl das Gebäude die Anforderungen an die Barrierefreiheit nicht vollständig erfüllt. Das liegt meines Erachtens vor allem auch daran, dass aus der Genehmigungsplanung häufig nicht ablesbar ist, ob die barrierefreien Lösungen alle zu Ende gedacht wurden und wie genau sich diese darstellen. Ein hilfreiches Instrument wäre das sog. Barrierefrei-Konzept, das in einigen Bundesländern bereits gefordert wird. Es erleichtert die Prüfung der Barrierefreiheit im Genehmigungsverfahren und sorgt für durchdachte Lösungen von Anfang an. Ein ganzheitliches Konzept kann als „roter Faden“ dienen und begleitet ein Bauvorhaben im besten Fall von der ersten Idee bis zum fertigen Gebäude.
Stephanie Dietel: Eine große Herausforderung sind die Schnelllebigkeit des Bauens und die ständigen technischen Neuerungen. Hinzu kommt der Kostenfaktor. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Barrierefreiheit. Sie wird als teuer empfunden, verursacht aber bei frühzeitiger Planung oft keine nennenswerten Mehrkosten. Wenn Barrierefreiheit von Anfang an als selbstverständliches Entwurfskriterium berücksichtigt wird, können viele Grundprinzipien der Barrierefreiheit bereits sehr gut in den Entwurf integriert werden. Eine intelligente Grundrissplanung kann Bewegungsflächen ohne zusätzliche Quadratmeter ermöglichen. Auch Orientierungshilfen für Menschen mit eingeschränkten Sinneswahrnehmungen lassen sich durch durchdachte Raumgestaltung und Kontraste leicht integrieren.
Aber Barrierefreiheit ist natürlich nicht nur eine Frage des Komforts, sondern sie trägt tatsächlich auch zum Nachhaltigkeitsgedanken bei. Nachhaltigkeit ist im Moment ein großes Thema und drückt sich in vielen verschiedenen Faktoren aus. Aber auch diese funktionalen Aspekte, die die Bedürfnisse der Gebäudenutzer in den Mittelpunkt stellen, sind ein ganz besonderer Punkt der Nachhaltigkeit und der Barrierefreiheit. Denn dadurch werden Gebäude über alle Generationen hinweg nutzbar und haben dementsprechend auch einen sehr hohen Zukunftswert.
VDI: Wie können Unternehmen barrierefrei werden?
Stephanie Dietel: Unternehmen sollten Fachexperten hinzuziehen und eine Bestandsanalyse durchführen lassen. Aus dem Status quo lassen sich Maßnahmen ableiten, die schrittweise umgesetzt werden können. Bereits kleine Maßnahmen wie Stufenkantenmarkierungen oder Markierungen auf Glastüren bringen große Verbesserungen. Auch die Überwindung kleiner Niveauunterschiede durch Rampen ist hilfreich, selbst wenn diese nicht exakt den Normvorgaben entsprechen. Ich sage immer gerne „ein bisschen Barrierefreiheit ist besser als keine Barrierefreiheit“. Es muss gar nicht so kompliziert sein, sondern es muss vor allem stattfinden.
VDI: Was sind Ihre Wünsche für eine barrierefreie Gesellschaft?
Stephanie Dietel: Eine ganzheitlicheBarrierefreiheit ohne Abstriche sollte bautechnischer Mindeststandard sein, kein freiwilliger Zusatz. Die uneinheitlichen Regelungen in den Bundesländern erschweren die Umsetzung. Eine Vereinheitlichung wäre wünschenswert. Zudem sollte das Thema nicht als Kostenfaktor, sondern als gesellschaftliche Notwendigkeit betrachtet werden. Inklusion und Teilhabe müssen selbstverständlich sein. Eine differenzierte Planung, die Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, spart langfristig Kosten und erhöht den Nutzwert von Gebäuden.
VDI: Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Gudrun Huneke
Fachlicher Ansprechpartner:
Rouven Selge, M.Eng.
VDI-Fachbereich Architektur
E-Mail: architektur@vdi.de