Direkt zum Inhalt

Sprechstunde bei Dr. Algorithmus

Bild: Tex.Vector/Shutterstock.com

Die Lebenswissenschaften machen rasante Fortschritte. Messungen werden immer präziser, und Geräte liefern große Mengen an Daten. In diesen „Big Data“ verbirgt sich ein wahrer Schatz: Algorithmen erkennen Muster und Trends, die Diagnostik und Therapie deutlich verbessern können.

Künstliche Intelligenz (KI) ist zum Trend der Medizin von morgen geworden. Allerdings sind KI-Technologien keine Selbstläufer. Zu den zentralen Voraussetzungen gehören große Datenmengen (Big Data), schnelle Speichermedien inklusive Cloud-Ressourcen, Rechner mit großer Leistung und nicht zuletzt Algorithmen, die keine „Black Box“ sind, sondern nachvollziehbare Ergebnisse liefern. Wo stehen wir derzeit?

Gute Daten – die Basis

Dazu ein Blick auf mögliche Datenquellen. Schätzungen zufolge soll der Absatz von Wearables, also tragbaren Computersystemen, im Jahr 2023 bei 279 Millionen Stück weltweit liegen. Smartphones sind ebenfalls flächendeckend verbreitet. Hier rechnen Experten in 2023 mit dem Verkauf von 1,54 Milliarden Geräten. Viele Apps und Wearables erfassen Vitalparameter – die notwendige Basis, um Langzeit-Messungen durchzuführen.

Im medizinischen Bereich sieht es hier eher zwiespältig aus. Zwar generieren Ärzte bei der Diagnostik und Therapie viele Daten. Oft bleibt es jedoch bei lokalen Auswertungen. Schon Kollegen anderer Fachrichtungen haben keinen Zugriff mehr. Um wirklich einen Mehrwert zu bieten, sind elektronische Patientenakten als zentrale Ablage dringend erforderlich. Und Wissenschaftler sollten die Möglichkeit bekommen, pseudonymisierte Aufzeichnungen für ihre Forschung zu nutzen.

Dass hier Rahmenbedingungen der Datenschutzgrundverordnung gelten, ist klar. Pannen wie beim National Health Service – britische Patientenaufzeichnungen waren online abrufbar – sollten künftig unbedingt vermieden werden. Denn sie zerstören das Vertrauen in moderne Technologien. Das wäre fatal, denn im besten Fall profitieren Patienten von den neuen Möglichkeiten bei der Diagnostik und der Therapie, falls es methodisch hochwertige „Big Data“ gibt. Das zeigen Modellprojekte.

Diagnostik: Bessere Ergebnisse als Ärzte

Schon heute liefern diagnostische Geräte große Datenmengen. Bei der manuellen Auswertung machen Ärzte je nach Erfahrung und Tagesform mehr oder minder viele Fehler. In einigen Fällen sind KI-Tools sogar besser als ihre Vorbilder aus Fleisch und Blut.

Dermatologen untersuchten kürzlich, wie gut sich Melanome, also aggressive Hautkrebs-Läsionen, von harmlosen Muttermalen unterscheiden lassen. Sie legten eine Datenbank mit Aufnahmen von 2.169 Melanomen an, um ihr KI-System zu „trainieren“. In allen Fällen hatten Pathologen den Befund bestätigt. Hinzu kamen Bilder von 18.566 harmlosen Muttermalen. Anschließend traten 157 Hautärzte gegen den Algorithmus an. Von ihnen erzielten sieben bessere Ergebnisse als die Software, 14 waren in etwa gleich gut, aber 136 schnitten schlechter ab. Zwar ging es in der Studie nur darum, bösartige von gutartigen Veränderungen zu unterscheiden. Mit größeren Datenbanken als Basis des maschinellen Lernens sind den diagnostischen Möglichkeiten jedoch kaum Grenzen gesetzt.

Auch bei der Bewertung von Routinedaten der Bildgebung spielt KI ihre Stärken aus.  So haben Heidelberger Wissenschaftler ein System entwickelt, um Bilddaten standardisiert und automatisch zu analysieren. Basis ist eine Datenbank mit knapp 500 Referenzaufnahmen der Magnetresonanztomographie (MRT). Algorithmen wurden damit trainiert, um Hirntumore zu erkennen und zu vermessen. Die Tools bekamen 2.000 MRT-Untersuchungen von 534 Glioblastom-Patienten als „Aufgabe“. Glioblastome sind aggressive Krebserkrankungen des Gehirns.

Hier zeigte sich, dass der computerbasierte Ansatz eine zuverlässigere Beurteilung des Ansprechens medizinischer Behandlungen ermöglicht. Krebsmediziner kombinieren auch bei der Behandlung von Gehirntumoren chirurgische Eingriffe mit Chemo- und/oder Strahlentherapien. Häufig treten Rezidive, also Rückfälle, auf. Umso wichtiger ist es, den Krankheitsverlauf engmaschig per MRT zu kontrollieren, um die Behandlung frühzeitig anpassen zu können.

Therapie: Per Roboter zum Herzen

KI-Werkzeuge werden nicht nur die Diagnostik, sondern auch die Therapie revolutionieren. Schon heute steuern Computer in vielen Krankenhäusern OP-Roboter bei komplexen Eingriffen. In automatisierten diagnostischen Labors läuft ebenfalls nichts ohne Computer. Jetzt haben Ärzte am Boston Children's Hospital einen autonomen Roboterkatheter entwickelt und in Tierexperimenten getestet. Ihr Tool arbeitet mit Druck- und Berührungssensoren. Per KI-Tool gelang die Navigation bis zur Aortenklappe. Die Software zur Steuerung wurde zuvor mit 2.000 Aufnahmen vom Inneren des Herzens gefüttert.

Fachkräfte entlasten, nicht ersetzen

Diese und andere Studien belegen, welche Möglichkeiten in medizinischen KI-Anwendungen stecken. Sie werden mittelfristig Fachkräfte entlasten, aber nicht ersetzen. Das liegt vor allem an den Patienten selbst: Umfragen zufolge lehnen 63 Prozent alleinige Diagnosen durch KI-Systeme bzw. Computer ab. Im Unterschied dazu befürworten 61 Prozent gemeinsame Diagnosen durch Arzt und Computer. Das zeigt einmal mehr: Menschliche Kontakte werden immer eine zentrale Rolle spielen, ganz besonders in der Medizin.

Text: Michael van den Heuvel

Artikel teilen