Agiles Führen
In der Welt AGILien wird Führung als entscheidender Erfolgsfaktor für Produktentwicklungsprojekte angesehen. Doch welche Rolle spielt Führung wirklich und wie unterscheidet sie sich vom Management? Tauche ein in die Welt AGILiens und entdecke die besondere Art der Führung in dieser Kultur.
In unserem Reiseführer über AGILien bringen wir Euch die Kultur des agilen Arbeitens näher. Von Geschichte über Besonderheiten bis zu Tipps und Tricks für die richtige Umsetzung. Im heutigen Kapitel machen wir einen Exkurs und erforschen die Besonderheiten in der Führung AGILiens.
Wirksame Führung sowie Management gilt als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Produktentwicklungsprojekte. Dabei ist Führung ein Thema, welches schon immer im Mittelpunkt der Interessen von Menschen stand – so auch in der Welt AGILiens. Mit Führung werden dynamische Bilder wie beispielsweise starke Persönlichkeiten, heldenhafte Führer sowie erfolgreiche Manager, assoziiert. Bei Führung geht es immer darum, in irgendeiner Form Verhalten zu regulieren, um Ziele zu erreichen. Wie der Einfluss auf das entsprechende Verhalten der Beteiligten ausgeübt werden soll, ist außerhalb AGILiens stark umstritten. So können direkte Anweisungen ebenso zum Erfolg führen, wie demokratische Prinzipien, die das Verhalten der Gruppe bestimmen. Dies institutionalisiert sich in den verschiedenen Ausführungen im Rahmen der Führungsstile, wie zum Beispiel der des Servant Leaderships oder Shared Leaderships. Diese Kontroverse besteht seit langen und spiegelt sich sicherlich auch in der Diskussion zu agilem Leadership wider. Dabei geht es nicht nur darum, von wem genau Einfluss ausgeübt wird, sondern auch in welcher Form und was das Ergebnis ist. Ein guter Reisführer gibt der am fremden Land interessierten Person nützliche Hinweise und Erläuterungen zu außergewöhnlichen und daher sehenswerten Dingen, eben die Besonderheit der Bevölkerung und der Landeskultur. Er macht auf Gewohnheiten und die Lebensart der Bewohnerinnen und Bewohner aufmerksam und erläutert notwendige Hintergründe und deren Bedeutung.
Führung als organisatorische Aufgabe
Für AGILien ist eine der sehr bemerkenswerten Lebensarten die Art und Weise wie Führung stattfindet und gepflegt wird. Wichtige Bezüge finden sich in der Kultur verankert wieder, weshalb die Beschäftigung mit der Kultur AGILIiens zwangsläufig ist (vgl. hierzu Kapitel Kultur des Reisführers). Bei einer Reise durch AGILien begegnen einem viele Menschen, die ihren täglichen Aufgaben und Bedürfnissen nachgehen. Viele sind mit ihren beruflichen Aufträgen und Herausforderungen beschäftigt oder arbeiten an privaten Projekten (z.B. Hausbau oder Gartengestaltung). Immer wieder gibt es kleine Gruppen, die augenscheinlich Planungen durchführen oder Ergebnisse bewerten. Diese Runden werden organisiert und geleitet, sodass sich eine Führung erkennen lässt. AGILien kennt demnach entgegen vielen Behauptungen die organisatorische Aufgabe der Führung. Jeder Reisende sollte sich unbedingt mit der Art und Weise beschäftigen, wie Führung stattfindet und welche Leitlinien sich aus der Kultur der agilen Produktentwicklung herausgebildet haben. Zunächst muss man sich als Beobachtender gegen eine übliche Verwechslung wappnen: Management ist nicht zu verwechseln mit Führung.
„You can manage firms, but you have to lead people.“
Die Unterscheidung wird in diesem sehr populären Merkspruch deutlich.
Geht es im Management im Kern um Ressourcenzuteilung zur Zielerreichung sowie der Vorgabe der Art und Weise des Tuns, so geht es in der Führung im Kern um die Erreichung von Motivation und Verpflichtung Einzelner oder eines Teams, Ziele erreichen zu wollen. Führung ist menschzentriert. Führung ist keine Prozedur, sondern eine Tätigkeit einer Person, die in einer Umwelt und einer Kultur stattfindet. Führung ist nicht auf das Wirken einer Führungskraft oder eines Vorgesetzten beschränkt. Sie ist immer eingebettet in die Arbeitsweise eines Teams, seiner Umgebung und seiner Situation. Sie gestaltet sowohl die Arbeitsweise und die Umgebung, wirkt aber auch gleichzeitig auf sich selbst zurück. In AGILien ist diese konkrete Arbeitsweise in der Mehrzahl der Projektaufgaben durch die Anwendung von Scrum geprägt. Dennoch beschränkt sich die agile Arbeitsweise nicht auf Scrum. Dort werden selbstorganisierte Teams postuliert, welche selbstständig darüber entscheiden sollen, welche Schritte zu erledigen sind (vgl. die Veröffentlichung zum Thema Selbstorganisation, Studie 2021). Bei der Selbstorganisation in AGILien nehmen alle am Prozess beteiligten Personen Führung wahr. Beobachtet man agile Teams bei ihrer Arbeit, dann sind in den vorgeschriebenen Rollen Führungsaufgaben vorhanden und hinterlegt. Der Product Owner managet zwar die Backlog-Arbeiten, seine Beteiligung im Sprint-Planning zielt aber auf die Führung eines Teams ab. Er stellt mit dem Team die Zielverpflichtung (Commitment) her. Dies ist einer der wichtigsten Punkte, wodurch wirksame und erfolgreiche Sprintergebnisse abgesichert werden. Würde er die Art und Weise, wie das Ziel zu erreichen ist „vorschreiben“, würde er sich aus der Aufgabe des Führens verabschieden.
In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle eines Agile Masters deutlich: Er hat auf die Umsetzung von Führung zu achten und das Team vor dem Reflex dominanter Managerinnen und Manager und dem zeitraubenden Verhandlungstheater zu bewahren. Auch in allen Events ist die Führung vorhanden. Retrospektiven, als Sprint mit Stakeholdern und Kunden, geben Feedback und leiten das Team und jede Person. Es existiert viel Literatur über Führungsstile, diese sind auch in AGILien bekannt und werden dort genutzt. Allerdings gibt es keinen dominanten Führungsstil, da verstanden wurde, dass dies die eigene Beweglichkeit einschränkt. Am ehesten ist das Konzept des „situativen Führens“ erkennbar. Dies gilt aber nur im übertragenen Sinne, da sich situatives Führen häufig auf die Beachtung persönlicher Situationen (emotionaler Zustand) des Geführten bezieht. Verteilte Führung und dienende Führung werden ebenfalls öfters assoziiert. Führung wird insbesondere sichtbar, wenn die Dinge nicht so laufen, wie es vorgesehen oder verabredet war. Dazu zählen auch in AGILien:
Steige vom Pferd, wenn es tot ist.
Das Pferd ist hier natürlich nur symbolisch gemeint. Wichtige Führungsaufgabe, um die Mannschaft oder Bevölkerung AGILiens vor unnötigem Aufwand zu schützen. Sinnlosigkeit vermeiden, also die Behauptung, dass das Pferd doch Leistung erbringen kann. Naheliegend wäre das Absteigen, aber im wirtschaftlichen Umfeld werden eben auch andere Verhaltensweisen plausibel: „Wir besorgen eine stärkere Peitsche, um doch voranzukommen“, „Wir wechseln die Reiter“, „Wir etablieren erstmal eine Analysegruppe“, „Wir bilden eine Task Force, um schneller zu werden“, u.a.m. Derartiges Führungsverhalten lähmt das Team. Es nimmt dem Team die Motivation, da die Führungskraft die Sinnlosigkeit des Tuns erhält. Führung muss gezielt erfolgen, die gemeinsame Vision vermitteln und Sinnhaftigkeit erzeugen.
Erschieße nicht den Boten.
Schlechte Nachrichten werden durch Verschönerung oder Verheimlichung nicht besser. Im Gegenteil ist hier Aktualität und unmittelbare Information der Trumpf. Teammitglieder oder Beteiligte entscheiden genau an einer solchen Bestrafungsreaktion, ob sie weiterhin motiviert mitarbeiten. Die Nachricht über den bedauernswerten Boten verbreitet sich immer in Windeseile. Dieses Ereignis zerrüttet das Vertrauen und unterminiert die Bereitschaft, an der Problemlösung engagiert mitzuarbeiten. Wenn allein die Nachricht die Bestrafung auslöst und wenn sie auch nur so empfunden sei, dann kann es mit der Bereitschaft, Risiken einzugehen nicht weit her sein. Überlegtes Hinterfragen der Umstände, die zur Situation geführt haben, ist richtig. Hier zeigt sich die Routinen der Stand-Ups und Retrospektiven.
Spiele nicht das „Blame Game“.
Die Suche nach dem Schuldigen ist nicht der Weg, um eine Lösung für ein Problem zu finden. Sie ist zwar eine verständliche emotionale Reaktion, muss aber Ausdruck des persönlichen Empfindens bleiben. Auch in AGILien darf sich geärgert werden und der Ärger auch mitgeteilt werden. Das Team kann in solchen Situationen aber schnell helfen und die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der Problemlösung lenken. In AGILien können Führungspersonen sehr gut zwischen Schuldzuweisung und Verantwortungszuweisung unterscheiden. Letzteres beruht auf der Fähigkeit, das Handeln der Person in der jeweiligen Situation zu beurteilen. Es beruht darauf, das Fehlverhalten in seiner Zumutbarkeit und seiner ausgesprochenen Pflichtübernahme klarzumachen. Hierin zeigt sich die außergewöhnliche Kultur AGILiens.
Die Mannschaft ist der Star.
Sicherlich ist die Mühe und der Aufwand zu führen, einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg. Aber genauso so wichtig ist es, zu verstehen, dass die führende Person für das Team da ist und für das Team einsteht. Die Projektion oder Aneignung des Erfolgs auf Einzelne ist demotivierend. In AGILien haben die Bewohner erkannt, dass sie Teil von etwas Größerem sein können als sie allein je erreichen könnten. Diese Erkenntnis hat ihre Bereitschaft zur Leistung gesteigert.
Führung in den Teams AGILiens hat immer auch sehr viel mit emotionaler Intelligenz zu tun. Sie berücksichtigt die Erfahrungen, Wahrnehmungen und Persönlichkeiten der Menschen, mit denen sie zusammenarbeitet. Diese Fähigkeit ist eine immaterielle Fähigkeit. AGILien ist weit davon entfernt, emotionale Intelligenz als Voraussetzung oder Prinzip für Führung anzuerkennen. In den Situationen, in denen Unvorhergesehenes oder Rückschläge eintreffen, ist das rationale Führen im Sinne des überlegten konsultativen, ruhigen, aber stetigen Führens anerkannt und sogar gefordert. Eine Führungskraft darf niemals zu einer Behinderung oder Belastung für das agile Team werden. Die Führungskraft muss in AGILien zu einem Wertbaustein für die Bevölkerung werden. Diese Idee wird im Handeln der Bewohner AGILiens erkennbar und somit zu einem Bestandteil ihrer Kultur. Zusammenfassend geht es darum, die Teams im Land AGILien zu befähigen, sodass sie bestmögliche Ergebnisse erzielen und somit einen Wert schaffen. Dabei ist jedoch für die traditionellen Inhaber der Führungsverantwortung zu berücksichtigen, dass ein Teil der Verantwortung an das Team übergeht. Die Verantwortung wird dadurch vielmehr lateral verteilt, sodass neue Führungsrollen entstehen. In AGILien wird davon ausgegangen, dass die Teammitglieder das „WIE“ auf Grund ihrer Erfahrungen besser erledigen können. Dies geschieht zumeist nach Expertise und nicht über strukturelle Vorgaben. Dabei ist die dahinter liegende Philosophie stark an die agilen Werte und Prinzipien des agilen Manifests gekoppelt (vgl. die Veröffentlichung zum Thema Kultur), welche bessere Wege vorschlagen, um Produkte zu entwickeln. Dennoch ist dieser Weg nicht einfach, weil viele Dinge in Frage gestellt werden, die über Jahre hinweg funktioniert haben. Es ist ein schwieriger Weg, jedoch ein Weg, der sich lohnt, auch wenn er Kritikfähigkeit, Mut, Zielstrebigkeit und Kommunikation auf Augenhöhe erfordert. Die Chance, als Team zusammenzuwachsen und geteilte Führung zu erleben ist jedoch ein Aspekt, der sich besonders in dynamischen Umgebungen auszuzahlen scheint. Viele Reisende bekundeten, dass sich dieser anstrengende Weg mehr als ausgezahlt hat, weil sich Perspektiven und Chancen ergaben, die man sich vorab hätte, nicht mehr erträumen lassen können. Der oftmals gebrachte Spruch “Dann gibt es ja keine Führung mehr“ ist falsch, denn agiles Arbeiten und Entwickeln bedeutet mit Nichten Führungslosigkeit.
Autoren waren die Mitglieder des Fachausschusses zum Agilen Arbeiten 710.
Fachliche Ansprechpartnerin:
Dr.-Ing. Daniela Hein
VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung
E-Mail: hein@vdi.de