Direkt zum Inhalt

Engineering Diversity: Innovation braucht Vielfalt

Bild: Look.Studio/Shutterstock.com

Die Ingenieurwissenschaften sind noch immer eine Männerdomäne. Für mehr Erfolg bei der Entwicklung neuer Produkte sowie beim Lösen komplexer Probleme braucht es künftig mehr Vielfalt. Dazu gehören neben einem höheren Frauenanteil auch mehr Interdisziplinarität – die weit über den Tellerrand schaut.

Globalisierung und Digitalisierung verändern und beschleunigen Innovationen. Das führt zu neuen Herausforderungen, die gelöst werden müssen: demografische Entwicklung, Migration, Verknappung natürlicher Ressourcen und Klimawandel. Unterschiedliche Blickwinkel sind hier wichtiger denn je. Denn globale Probleme lassen sich nur grenzübergreifend und interdisziplinär lösen. Dafür müssen sich auch die Ingenieurwissenschaften stärker öffnen – für Gedanken und Ideen jenseits ihrer Fachrichtung.

Engineering Diversity heißt das Stichwort: Die Vielfalt der Menschen mit ihrem jeweiligen Wissen, ihrer unterschiedlichen Herkunft und ihren variierenden Charaktereigenschaften zu nutzen, um Probleme schneller und besser zu lösen. Aktuell sind die Ingenieurwissenschaften von Männern jenseits der 50 geprägt. So war 2014 jeder zweite Ingenieur 50 Jahre oder älter, Tendenz steigend. 

Um Vielfalt für den Erfolg von Innovation nutzen zu können, bedarf es einer stärkeren Durchmischung – nicht nur in den Studiengängen, sondern auch in Lehre und Forschung. Damit ist unter anderem der Anteil an Frauen gemeint, der derzeit (Wintersemester 2018/19) für die Ingenieurwissenschaften bei knapp 25 Prozent liegt. 

Frauen wählen ihr Studium anders als Männer

Die Gründe, warum deutlich weniger Frauen als Männer Ingenieurwissenschaften studieren, sind unterschiedlich. „Technikorientierte Fächer haben nach wie vor das Image, ein ,Männerjob‘ zu sein. Ihnen werden Themen und Herausforderungen zugeschrieben, denen sich traditionell Männer annehmen“, erklärt Prof. Dr. Ingrid Isenhardt, erste stellvertretende Direktorin des Cybernetics Lab IMA & IfU der RWTH Aachen. Dabei habe die Erfahrung gezeigt, dass bei Frauen nicht grundsätzlich weniger Interesse besteht. 

„Wenn bei der Beschreibung eines Studienganges klar ersichtlich ist, welche Sinnhaftigkeit und welche ansprechenden Berufsperspektiven dahinterstecken, erreicht man sofort mehr Frauen. Bei ihnen ist die Entscheidungsfindung für einen Studiengang eine andere“, erklärt Isenhardt.

Während bei Männern durchaus die Familientradition oder der spätere Verdienst für die Wahl eines Studiums entscheidend sein können, hinterfragen Frauen, was sie später in ihrem Beruf bewirken können.  „Dort sollte man ansetzen und Frauen zeigen, welche Vielfalt die Ingenieurwissenschaften bieten. Man muss auch für Frauen attraktive Fragestellungen bieten“, erklärt die Professorin. Beliebt seien bei Frauen vor allem anwendungsnahe Ingenieurstudiengänge sowie solche, die mit anderen, lebensnäheren Fächern verknüpft sind. So war das Verhältnis in den Fächern Biotechnologie (55 Prozent Frauen) und Gesundheitstechnik (45 Prozent) im Wintersemester 2016/17 fast ausgeglichen.

Ein anderes Problem, das bei der Genderthematik auftritt, sei die Argumentation, mit der für eine höhere Frauenquote geworben wird: Das Argument lautet häufig „Fairness“. „Stattdessen müsste das Argument ,Erfolg‘ lauten: Wenn man Frauen einbezieht, hat man noch eine andere Perspektive und ist letztlich erfolgreicher“, sagt Isenhardt. Es gehe nicht darum, Frauen mit Männern gleichzusetzen, sondern darum, den weiblichen Blick auf Fragestellungen zu nutzen. „Das hat nichts mit Klischees zu tun. Es gibt Fragestellungen, die sprechen eher Frauen an. Die Grundsatzfrage lautet: ,Mache ich alle gleich oder lasse ich die Unterschiede zu und nutze sie? Spezifisch weibliche Kompetenzen und Sichtweisen sind wichtig für die technische Entwicklung.“

Weniger Ingenieure haben einen nicht-akademischen Hintergrund

Ethnische Herkunft, Alter und Einstellung (konservativ oder innovativ) spielen neben dem Geschlecht ebenfalls eine Rolle auf dem Weg zu mehr Vielfalt. Hinzu kommt der familiäre Hintergrund. So ist unter den Ingenieurstudierenden der Anteil an Kindern von Nicht-Akademikern seit Mitte der 90er-Jahre kontinuierlich und überproportional zurückgegangen. Ihre Zahl sank an den Fachhochschulen zwischen 1995 und 2007 von 73 auf 59 Prozent. An den Universitäten reduzierte sich die Quote von 47 auf 38 Prozent – und sie sinkt kontinuierlich weiter. 

Viele Arbeiterkinder müssen ihr Studium mit Nebenjobs selbst finanzieren. Die Verdichtung des Studiums durch den Bologna-Prozess ist für sie daher ein Nachteil. Auch lassen sie sich durch mögliche finanzielle Probleme eher vom Studium der Ingenieurwissenschaften abhalten.

Engineering Diversity bedeutet aber noch mehr: „Neben einer stärkeren Heterogenität muss der Fokus auch auf Interdisziplinarität liegen. Und damit meine ich nicht nur Interdisziplinarität innerhalb der technischen Studiengänge, sondern auch darüber hinaus“, erklärt Prof. Isenhardt. „Wenn wir die großen globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert meistern wollen, muss beispielsweise der Humanbiologe mit dem Ingenieur zusammenarbeiten. Die verschiedenen Möglichkeiten, eine Fragestellung anzugehen, müssen stärker genutzt werden, um letztendlich das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.“ 

Der Vorteil interdisziplinären Arbeitens liegt auf der Hand: Viele Produkte werden von vielen unterschiedlichen Menschen benutzt. Diese Bandbreite muss bereits bei den Perspektiven für die Entwicklung vorhanden sein, um ein möglichst erfolgreiches Produkt zu entwickeln. „Darüber hinaus führt Heterogenität innerhalb einer Gruppe auch zu besseren Verknüpfungen, da jeder Einzelne ein anderes Wissensnetzwerk mitbringt“, sagt Isenhardt.

Heterogene Teams ideal für komplexe Systeme

Wie die ideal durchmischte Gruppe aussieht, hängt auch von der Fragestellung ab. „Grundsätzlich ist alles, was Verschiedenheit ausmacht, gut“, sagt die Professorin. „Das bezieht sich nicht nur auf Alter, Geschlecht und soziale oder ethnische Herkunft, sondern auch auf den Persönlichkeitstyp. Ob innovativ, dominant, konservativ, bedächtig oder ,Macher‘ – eine Gruppe profitiert immer auch von der Persönlichkeitsvielfalt. Man braucht Praktiker und Theoretiker.“ Bei der grundsätzlichen Debatte müsse aber auch beachtet werden, dass heterogene Teams insbesondere dann erfolgreich sind, wenn die Aufgabenstellung komplex ist. 

Ein solches Angebot ist die „Ingenieure ohne Grenzen Challenge“, die seit 2013 an der RWTH Aachen angeboten wird, seit 2017 auch an der Ruhr-Universität in Bochum und an der TU Dortmund. Die Challenge ist ein internationales Lehrformat für Hochschulen. Durch die vorgegebenen Fragestellungen kommen die Studierenden mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in Berührung. Die Themen knüpfen an die Inhalte eines ingenieurwissenschaftlichen Studiums an, Interdisziplinarität ist feste Voraussetzung.  Das Programm entstand im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes „ELLI“ (Exzellentes Lehren und Lernen in den Ingenieurwissenschaften).

„Die Frage bleibt letztlich: Auf wen stelle ich mich ein, für wen mache ich Lehre. Für den 18- bis 20-jährigen jungen Mann aus Deutschland oder auch für andere Zielgruppen? Und wie viele interdisziplinäre Fragestellungen lasse ich zu?“, sagt Prof. Isenhardt. „Da ist noch viel zu tun.“ Möglichkeiten der Veränderung gäbe es zur Genüge: Etwa fächerübergreifende Lehrveranstaltungen, in denen Teilnehmer verschiedener Studiengänge Credits erhalten können. „Auch Teamarbeit bei Promotionen wäre eine Idee“, erklärt die Professorin, „Etwa, wenn ein Geisteswissenschaftler und ein Ingenieurwissenschaftler eine These gemeinsam bearbeiten.“

Die Hochschulen könnten die Interdisziplinarität in Form von Vorsätzen in die Leitlinien aufnehmen. „Dann müssten sie sich daran messen lassen.“ Zudem solle es mehr Projektausschreibungen geben, die ohne Interdisziplinarität nicht mehr zu lösen sind. 

Text: Julia Klinkusch

Artikel teilen