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Forschungsprojekt SPAICER

Mit KI Unternehmen sicher durch Krisen navigieren

Bild: Wright Studio/Shutterstock.com

Kleine Ursache – große Wirkung. Der Ausfall eines unscheinbaren Bauteils oder das Ausbleiben einer Komponente können schnell eine ganze Produktion lahmlegen und hohe Kosten verursachen. Solche und andere Störungen mit Methoden der Künstlichen Intelligenz zu verhindern oder ihre Folgen abzumildern, ist Ziel des Forschungsprojekts SPAICER.

Als vor einem Jahr die Corona-Krise weltweit Lieferketten unterbrach, standen viele Produktionsbetriebe zunächst einmal still. Es fehlte an Zulieferteilen, es fehlte aber auch an Fachleuten, die durch Grenzschließungen am Reisen gehindert waren. Es zeigte sich überdeutlich, wie gefährdet hochvernetzte Produktionsprozesse gegen Störungen sind. Und das muss nicht gleich eine Pandemie sein. 

Auch normaler Verschleiß, kleine Defekte oder Lieferverzögerungen durch Extremwetter, können Lieferketten und Produktionsprozesse durcheinanderbringen und große finanzielle Schäden verursachen. Ein Forschungsteam rund um  den Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Maaß, wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken, hat sich dieses Problems angenommen. Denn: „Solche Produktionsunterbrechungen sind für Unternehmen das Geschäftsrisiko Nummer eins“, weiß der KI-Forscher.

Flexibel an Veränderungen und Störungen anpassen

Zusammen mit über 50 Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft sollen KI-basierte Services entwickelt werden, mit denen Unternehmen potenzielle Störungen in der Produktion früh erkennen und damit auch bestmöglich abwenden können. „Unser Ziel ist es, die Widerstandkraft - die sogenannte Resilienz der Unternehmen - zu stärken, sodass sie sich flexibel an Veränderungen und Störungen anpassen und auch schwierige Situationen stabil überstehen können“, erklärt Maaß.

Das aus diesem Ziel entstandene Forschungsprojekt hört auf den Namen SPAICER. Das Akronym steht für „Skalierbare adaptive Produktionssysteme durch KI-basierte Resilienzoptimierung“. Es ging als eines von 135 Projekten aus dem Innovationswettbewerb Künstliche Intelligenz des Bundeswirtschaftsministeriums im Jahr 2019 erfolgreich hervor. Der Startschuss erfolgte vor einem Jahr am 1. April. Die Laufzeit beträgt drei Jahre und das Projekt wird mit mehr als 10 Mio. EUR vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert. In der Rückschau erinnert sich Maaß: „Anfangs galt unser Thema als ziemlich esoterisch, aber spätestens mit Corona wurde klar, wie wichtig Resilienz für die Industrie ist.“

Maaß unterscheidet zwei Arten von Störungen: „Solche, die im Unternehmen bereits existieren und auf die schnell adäquat reagiert werden muss. Und andererseits Störungen, die erkennbar auf das Unternehmen zukommen und bei denen die Leitung überlegen muss, wie sie damit umgeht.“ Also einerseits schnell und effizient auf Krisen reagieren, andererseits Probleme antizipieren und daraus mögliche Maßnahmen ableiten.

Digitalisierung macht Produktion komplexer

Dabei hilft der Trend zu Digitalisierung und Vernetzung. Einerseits macht das eine Produktion komplexer und unübersichtlicher und bewirkt, dass die Folgen von Störungen sich nur schwer abschätzen lassen. Andererseits fallen dank Digitalisierung und Vernetzung große Mengen Daten an fast jeder Stelle der Produktion an. Und da schlägt die Stunde der KI. Maaß: „Bei großen Datenmengen hilft uns das Maschinelle Lernen, daraus Muster und Anomalien zu erkennen.“ Es gehe bei all dem auch nicht darum, die erkannten Probleme zu 100 % zu lösen. Maaß: „In vielen Fällen machen schon 10 % einen Riesenunterschied.“

Störungen im Produktionsablauf kommen aber nicht zwangsläufig nur von innen, auch äußere Einflüsse können schwere Auswirkungen haben. Die Corona-bedingten Lieferkettenunterbrechungen und Grenzschließungen waren ein prägnantes Beispiel, dass laut Maaß in vielen Firmen das Problembewusstsein geschärft habe. Deswegen sollen in SPAICER perspektivisch auch Daten, z.B. von den Finanzmärkten, aus Wetterberichten oder aus der Logistik, genutzt werden, um Probleme vorausschauend zu erkennen.

Die Analyse großer Datenmengen mit KI ist das eine. Das andere ist es, die daraus gewonnen Erkenntnisse in die industrielle Praxis zu übersetzen. Und hier, das weiß Maaß genau, treffen zwei Welten aufeinander. Maaß: „Ganz wichtig ist, die Menschen aus der Praxis mitzunehmen. Die Ergebnisse der Datenanalysen und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen müssen verständlich und nachvollziehbar kommuniziert werden.“ Bei dieser Umsetzung helfen den Forschenden die erprobten Methoden der symbolischen, also planbasierten KI. Denn mit Plänen kann auch das Personal an den Maschinen umgehen. 

Echte Daten aus der industriellen Praxis

Gerade für Unternehmen, die jetzt erst die Hürde zur Digitalisierung nehmen, kann das Thema KI schnell abschreckend wirken. Doch hier haben Maaß und das SPAICER-Team einen entscheidenden Vorteil. Sie arbeiten nicht im Elfenbeinturm, sondern haben den ganz konkreten Praxisbezug: „Wir nutzen im Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen eine hochmoderne Feinschneideanlage, an der wir unsere Konzepte zusammen mit den Industriepartnern erproben können.“ Und sie nutzen damit die Chance, echte Daten aus der Praxis auswerten zu können. Denn KI-Systeme seien nur so gut wie die Daten, an denen sie lernen können. Reale Daten aus mittelständischen Unternehmen zu bekommen, ist laut Maaß schwierig. Simulierte Daten sind oft nur ein schlechter Ersatz. Im WZL und den industriellen Produktionsumgebungen von Feintool, Schott und zukünftig auch der Deutschen Bahn und Mendritzki stehen echte Daten für die Forschung zur Verfügung. 

Ähnliches gilt für den SPAICER-Projektpartner Schott, der gleichfalls mit Daten aus der realen Glasproduktion zum Erfolg beitragen kann. Erste Ergebnisse präsentierte SPAICER kürzlich zur Hannover Messe. Matthias Müller, Entwicklungschef bei Schott, nannte SPAICER auf der Messe eine „sinnvolle Erweiterung der klassischen Produktionsoptimierung.“ Gerade Industrie 4.0 führe zum Entstehen neuer Potenziale, aber auch neuer Notwendigkeiten. KI-Prozesse würden dabei helfen, in Produktionsanlagen „schleichende Veränderungen zu erkennen, lange bevor der Mensch dazu in der Lage ist.“

Beispiel Glasproduktion

Am Beispiel einer kontinuierlichen Glasproduktion wird das deutlich. Die verschiedenen Stationen, die das Glas durchläuft, sind durch die aggressive Glasschmelze und hohe Temperaturen starken Belastungen ausgesetzt. Gleichzeitig sind die Anlagenteile schwer zugänglich und Wartungsarbeiten kostspielig. Splitter und Blasen, die in der Anlage entstehen können, haben Auswirkungen auf die Glasqualität, die normalerweise erst am Ende der Strecke erkannt werden.

Hier greift SPAICER: Eine umfangreiche Sensorik überwacht die Anlage und sendet kontinuierliche Datenströme, die lokal in Echtzeit ausgewertet werden. Daraus errechnet der Resilienz-Service Kennzahlen, die aggregiert und in eine globale Sicht der Anlage überführt werden. Entsteht eine lokale Störung, die keinen Einfluss auf die Gesamtanlage und die Produktqualität hat, kann der Maschinenbediener dies dem Service mitteilen, der per unterschiedlichen KI-Technologien, wie u.a. semi-überwachtes Lernen, diese Erkenntnis in zukünftige Bewertungen einbaut. Wird hingegen aufgrund der Algorithmen vorhergesagt, dass eine Störung Einfluss auf die Produktion hat, macht der Service aufgrund einer Anomaliehistorie Vorschläge zur Behebung. So kann ein Produktions-Run abgebrochen werden, bevor die Qualität sinkt oder es kann eine vorausschauende Wartung veranlasst werden.

Im Beispiel „Feinschneiden“ sind es die Prozesse „Schneiden“ und „Abstreifen“, die von SPAICER überwacht werden, und zwar per akustischer Messungen. Die bei der Arbeit an der Maschine aufgenommenen Geräusche werden dann mittels KI ausgewertet und so der Werkzeugverschleiß abgeschätzt. Auch bei diesem Beispiel steht die praxistaugliche Benutzerschnittstelle im Vordergrund. Erste Hinweise auf den Zustand der Werkzeuge gibt eine Ampeldarstellung. Zeigt diese gelb oder gar rot, gibt es weitere grafische Auswertungen, die dem Bedienpersonal Hinweise zur akuten Verschleißprognose geben.

Smarte Resilienz-Services

Eine ganze Plattform mit vielen solchen smarten Resilienz-Services ist Maaß' Ziel - keine große, schwerfällige Softwareplattform, die vorgibt, alles zu können. Vielmehr setzen der Wirtschaftsinformatiker und das SPAICER-Team auf kleinteilige, auf das jeweilige Problem fokussierte und miteinander vernetzte Module. „Wir wollen eine Plattform schaffen, auf der wir interoperable Services gut installieren und schnell in die Praxis überführen können. Dazu brauchen wir ein Rahmenmodell und entsprechende Softwareentwicklungen. Da sind wir auf einem guten Weg.“

Was die Software im Zusammenwirken mit der Sensorik leisten kann, haben die Beispiele auf der Hannover Messe gezeigt. Doch ist für Maaß ein weiterer Punkt noch viel wichtiger: „Wir müssen das in langfristig tragfähige organisatorische Strukturen überführen.“ Ihm schwebt ein Bundesverband für Resilienz-Management vor, der helfen soll, einen langfristigen Dialog zwischen Mittelständischen Unternehmen zu etablieren.

„Denn viele Probleme,“ so ist er überzeugt, „werden nicht ausschließlich technisch lösbar sein. Vieles wird auch auf der menschlichen Ebene passieren.“ Wenn Unternehmen über diesen Verband artikulieren können, was sie an Services brauchen, kann das als Anforderung in das Software-Ökosystem überführt werden. Maaß: „Wenn das klappt, wird es nachhaltiger sein als die Plattform an sich. Denn wir schaffen das Wichtigste überhaupt: Vernetzung!“

GMA im VDI arbeitet an Richtlinie zum Resilienz-Management

Bei SPAICER - das ist Maaß ganz wichtig - gehe es nicht um die Erholung von einem einzelnen Rückschlag. „Es geht vielmehr darum, Produktionsunternehmen die Fähigkeit zu geben, Veränderungen und Störungen permanent zu antizipieren, auf diese zu reagieren und sich daran anzupassen und so die deutsche Industrie wettbewerbsfähiger zu machen.“ Und genau dafür sind leistungsstarke KI-basierte Resilienz-Technologien unverzichtbar.

Die VDI-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (VDI-GMA) ist in SPAICER involviert und erstellt derzeit Richtlinien zum Resilienz-Management. GMA-Geschäftsführerin Dagmar Dirzus sagte gegenüber VDI nachrichten: „Mit SPAICER wird ein wichtiger Meilenstein für die deutsche Wirtschaft gelegt.“ Die Fähigkeit, auf Krisen zu reagieren, sei aktuell für Unternehmen zukunftsentscheidend. „Bisher gibt es dafür aber weder ein geeignetes Klassifizierungssystem, noch implementierbare Services, die dabei helfen, darauf frühzeitig richtig reagieren zu können“, stellte sie fest.

Über SPAICER:
An SPAICER sind neben dem DFKI das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) an der RWTH Aachen, die Universität Freiburg, die Technische Universität Darmstadt, das Institut für Technologie- und Innovationsmanagement der RWTH Aachen, die Otto Beisheim School of Management (WHU), deZem, Feintool, SAP, Schott, Seitec und Senseering beteiligt. Die Deutsche Bahn und Mendritzki haben Anträge zum Beitritt gestellt. Weitere 39 assoziierte Partner unterstützen das Projektkonsortium mit wichtigem Praxiswissen.

Autor: Jens D. Billerbeck

Ihr Ansprechpartner im VDI
Dipl.-Ing. Dieter Westerkamp
VDI-Topthema Digitale Transformation
E-Mail-Adresse: westerkamp@vdi.de

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