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EM 2024

Simulation des EM-Spielballs: Das hat Fussballliebe den Vorgängern voraus

Bild: adidas.com

Elf der 34 Tore wurden am ersten EM-Gruppenspieltag von außerhalb des Strafraums erzielt. Das ist der höchste Wert bei einer Fussball-Europameisterschaft. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Anbieters für Multiphysics Software COMSOL. Was hat das mit dem Spielball Fussballliebe von adidas zu tun? Phillip Oberdorfer, Manager Technical Marketing beim Unternehmen, sagt im Interview: „Die aerodynamische Stabilität und Präzision des neuen Balls könnten Spielern mehr Vertrauen in Distanzschüsse geben.“

VDI: Sie haben bei COMSOL den Spielball der EM 2024 analysiert. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Phillip Oberdorfer: Unser Team bei COMSOL vereint die Leidenschaft für Simulation und Ballsport, und so haben wir – aus reinem Interesse und Spaß – die Strömungseigenschaften des EM-Spielballs analysiert. Dabei kam heraus, dass der Ball eine im Vergleich zu früheren Bällen verbesserte aerodynamische Stabilität und höhere Fluggenauigkeit aufweist, insbesondere bei hohen Geschwindigkeiten.

VDI: Der Ball adidas® Fussballliebe® wurde von Ihnen modelliert, um also eine Einschätzung seiner aerodynamischen Eigenschaften zu gewinnen. Wie funktioniert diese Modellierung?

Zunächst haben wir ein 3-D-Geometriemodell erstellt, das die Oberflächendetails von Fussballliebe® umfasst. Der neue Ball hat ein ausgeprägtes Oberflächendesign mit Rillen und Vertiefungen. Diesen virtuellen Ball haben wir dann mittels Computational Fluid Dynamics, kurz CFD, simuliert. Das bedeutet, dass unsere Simulationssoftware die Strömungsgleichungen löst, die den Luftstrom und die resultierenden Kräfte auf den Ball im Flug beschreiben. Denn der Luftstrom um einen Fußball ist hochkomplex, mit Turbulenzen in dünnen Grenzschichten, was die Simulation rechnerisch aufwändig macht. Durch verschiedene Simulationstechniken konnten wir diese Herausforderungen angehen und das Verhalten des Balls in verschiedenen Flugphasen analysieren.

Die Geometrien des adidas® Telstar® (links) und des adidas® Fussballliebe® (rechts) mit seinen charakteristischen Rillen und Vertiefungen.

VDI: Sie haben zahlreiche Simulationen durchgeführt und die Ergebnisse mit anderen EM-Bällen wie dem adidas® Telstar verglichen. Was kam dabei heraus und was ist der Unterschied zwischen den Modellen?

Unsere Simulationen zeigten, dass Fussballliebe® zwar einen leicht höheren Strömungswiderstand, aber auch eine stabilere Flugbahn und weniger unvorhersehbare Bewegungen aufweist als der adidas® Telstar von der Weltmeisterschaft 2018. 

Die gutmütigeren Flugeigenschaften führen wir auf einen speziellen Unterschied zurück: Beim neuen Ball setzt die sogenannte Strömungswiderstandskrise – ein plötzlicher Anstieg des Luftwiderstands im Flugverlauf – erst bei niedrigeren Geschwindigkeiten ein. Das macht den Ball bei Fernschüssen für die Spieler vorhersagbarer, man kann sagen: Fussballliebe® macht, was er soll. Übrigens ganz im Gegensatz zu adidas® Jabulani® von der WM 2010, der für sein flatterhaftes Verhalten bekannt und gefürchtet war. Bei Jabulani® setzt die Strömungswiderstandskrise viel früher ein. Unsere Berechnungen sind noch nicht abgeschlossen, wir lassen nebenbei noch immer Modelle laufen, um die ersten Ergebnisse zu verfestigen.

Schematische Darstellung des Strömungswiderstandskoeffizienten in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit des adidas® Jabulani® Balls (WM 2010, grün), des adidas® Teamgeist® II (EM 2008, blau) und eines herkömmlichen Fußballs, wie dem ersten adidas® Telstar® (WM 1970, rot). Der Bereich der starken Steigung bezeichnet die sogenannte Strömungswiderstandskrise. Der Ball hat zunächst eine hohe Geschwindigkeit und durchläuft das Diagramm von rechts nach links.

Betrag der Geschwindigkeit und Stromlinien, die den Weg der Strömung um den adidas® Fussballliebe® zeigen.

VDI: In Ihrer Statistik kommt vor, dass elf der 34 Tore am ersten EM-Gruppenspieltag von außerhalb des Strafraums erzielt wurden. Das ist der höchste Wert bei einer EM. Was hat das mit dem EM-Ball zu tun?

Die aerodynamische Stabilität und Präzision des neuen Balls könnten Spielern mehr Vertrauen in Distanzschüsse geben, was zu einer höheren Anzahl von Toren aus der Ferne führt. Das ist sehr interessant, da in den letzten Jahren die Anzahl der Tore aus der Distanz kontinuierlich gesunken ist. Die EM stellt damit eine Trendumkehr dar, aber es ist schwer vorherzusagen, ob diese anhält: Die Verteidiger können sich darauf einstellen und beispielsweise etwas höher verteidigen, was dann den Strafraum wiederum offener und attraktiver für die Angreifer macht. Und Torhüter profitieren ja ebenfalls von der besseren Vorhersagbarkeit der Ballflugbahn – sie hatten vielleicht nur noch keine Zeit, sich darauf einzustellen. Wir dürfen also weiterhin gespannt sein!

VDI: Geben Sie die Ergebnisse an den DFB und adidas? 😊

(lacht) Ich bin sicher, dass der Hersteller die Widerstandskurven und Flugeigenschaften seiner Produkte noch viel genauer kennt, schließlich sind Windkanaltests und Simulationssoftware bei Profisportausrüstern längst Standard. Ich möchte auch noch einmal betonen, dass dieses kleine Projekt aus reiner Neugier entstanden ist, getrieben aus purem Enthusiasmus und Spaß am Simulieren, aber ohne Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit oder für eine kommerzielle Verwertung. Doch es ist für uns spannend und erfreulich, dass die bisherigen Entwicklungen auf dem Platz unsere Analysen bestätigen. Die Ergebnisse sind frei verfügbar auf unserem Blog, zusammen mit mehr Details zu den Analysen und Hintergründen. Und wir freuen uns immer über Kommentare und Anregungen für weitere spannende Simulationsprojekte. Vielleicht nehmen wir uns für den Winter die Mechanik der Skier für die Vierschanzen-Tournee vor, denn simulieren kann man so ziemlich alles!

Das Interview führte Sarah Janczura.

Schon gehört? Phillip Oberdorfer war bereits zweimal zu Gast bei „Technik aufs Ohr  Spezial“. Hier spricht er darüber, warum die Welt multiphysikalisch ist.

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