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Gemeinsam Beatmungsgeräte herstellen

Was hindert die Automobilindustrie an einer schnellen Umstellung?

Bild: Olena Yakobchuk / Shutterstock.com

Jede Krise birgt eine Chance. Diese Aussage mag angesichts der aktuellen Lage, die die Corona-Pandemie hervorruft, nur eine Minderheit unterschreiben. Andererseits sind Industrie und Gewerbe so massiv betroffen, dass Umdenken die Ultima Ratio ist. Daher möchten wir uns mit einer aktuellen Frage beschäftigen: Sind Automobilhersteller in der Lage, von heute auf morgen Beatmungsgeräte herzustellen?

„Beatmungsgeräte kann man nicht einfach auf Automobillinien bauen“, sagt Jean Haeffs, Geschäftsführer der Fachgesellschaft Produktion und Logistik beim VDI. „Teile aber schon. Im selben Atemzug ist jedoch die Offenheit der medizintechnischen Branche notwendig“, führt er aus. Dies sei jetzt eine große Chance für Deutschland. Das Land könne zeigen, dass wir in der Lage sind, flexibel zu agieren. In den USA ist man bereits dabei, demnächst Beatmungsgeräte bei Tesla und Co. zu produzieren – zumindest behaupten sie das. Wir können so etwas in Form von Kooperationen ebenfalls bieten.

„Sicherlich lassen sich die hoch automatisierten Produktionslinien, etwa des Karosseriebaus, nicht und vor allem nicht schnell oder wirtschaftlich sinnvoll umstellen“, sagt Dr. Dagmar Dirzus, Geschäftsführerin der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik. „Dennoch gibt es derzeit freie Ressourcen und Kapazitäten, die für die Produktion aktuell wichtiger Gerätschaften genutzt werden könnten“, so Dirzus. Die Betonung liegt auf „Könnten“. Denn Grundlage sei der Blick über den Tellerrand. Damit meint Dirzus den Willen, in kurzer Zeit neue Lieferketten zu erzeugen. Zudem sei die Offenheit der originären Hersteller notwendig. Hierbei ist die fehlende Agilität in Deutschland das größte Problem; und manche Genehmigungsprozesse lassen gute Projekte letztlich scheitern.

Die Kernfrage: Was wäre aktuell möglich?

Medizinische Geräte unterliegen hygienischen Vorgaben, die in der Automobilindustrie selbstverständlich niemand vorsieht. Sollten nun jedoch die Komponenten vorhanden sein, dann wäre es möglich, diese nach einer kurzen Lernphase der Mitarbeiter schnell zu montieren. Das bedeutet, der Knackpunkt ist, die neue Lieferkette zusammenzustellen. Die Manpower in der Automobilindustrie ist derzeit vorhanden. Sollten keine Superspezialwerkzeuge benötigt werden, können Verantwortliche den Montageprozesse schnell und flexibel an gerade benötigte Produkte anpassen.

Doch Montage ist nur ein Bereich, der flexibel eingebracht werden könnte. In Notzeiten müssen Produktionen zusammenarbeiten. Die zentrale Frage dabei ist: Was fällt an sekundären Tätigkeiten und Prozessen in diesen Wochen nicht an, die woanders gebraucht wird? Beispielsweise gibt es in der Automobilindustrie Laborkapazitäten und sehr gut ausgebildete Chemiker. Rapid-Center sind auch vorhanden, in denen sich die notwendigen Geräte-Teile direkt drucken lassen. Dräger und andere Hersteller medizinischer Geräte kommen derzeit mit der Produktion nicht nach. Sicherlich ließe sich das beheben, zumindest teilweise. Daimler hat das erkannt. Der Konzern spricht momentan mit Dräger.

Die Grundvoraussetzungen: Offenheit und Vertrauen

Für alle diese Ideen sind Offenheit und gegenseitiges Vertrauen notwendig. Schauen wir uns mal das Beispiel Dräger an: Die Firma müsste keine Sorgen haben, dass ein Automobilist nach der Krise seine Produktion langfristig auf Beatmungsgeräte umstellt. Daimler und Co. werden so früh wie möglich wieder in die angestammten Gebiete zurückkehren. Dennoch besteht hier nicht nur für den Moment die Chance, kurzfristig flexible Produktionsketten ad hoc aufzubauen, sondern langfristig ein flexibleres Wirtschaftsnetz aufzubauen, um damit in Zukunft wesentlich resilienter gegenüber unvorhergesehenen Einflüssen zu werden – also im Prinzip der Grundgedanke der verteilten Produktion nach Industrie 4.0.

„Wir müssen und sollten im Moment nicht in großen Dimensionen denken, sondern salopp gesagt einfach mal machen“, meint Dirzus. Sie führt aus: „Die erste Frage, die jeder Betrieb für sich beantworten kann, lautet: Was können wir als Amateur tun?“ – in diesem Kontext sei jeder Amateur, der nicht in seinem Ursprungsgebiet arbeitet. Demnach ist die Automobilindustrie Amateur, wenn es um Medizintechnik geht und darum wichtige Industriezweige ad hoc zu entlasten. Neben der Manpower und den Montage-Fähigkeiten seien Kompetenzen wie Additive Manufacturing genauso gefragt wie Laborkapazitäten. Auch Grundstoffe bereitzustellen, sei relevant. Beispielsweise wird in der Automobilindustrie steriles Wasser tonnenweise produziert; in höchster Reinheit.

Die zweite Frage ist: Gibt es verwandte Prozesse, die sich einsetzen lassen? Ist es möglich, Kapazitäten aus dem Softwarebereich zu nutzen, um beispielsweise Steuerungen, die hergestellt und programmiert werden müssen, auf einen normalen PC zu übertragen oder auf einen Raspberry Pi zu bringen? Wie können verwandte Industrien miteinander vernetzt werden, wie Webasto mit Draeger? Aber es wird momentan nicht wirklich darüber nachgedacht. Dazu müssten die Stamm-Industrien und deren Unternehmen das Vertrauen haben, beispielsweise Rezepte und Rezeptteile von notwendigen Stoffen oder Softwareprogramme zur Steuerung von Beatmungsgeräten freigegeben werden.

Wieso ist die Automobilindustrie eigentlich so unflexibel?

Zurück zur Automobilindustrie: Alle wollen Autos zu den günstigsten Preisen. Deswegen ist der Karosseriebau geprägt von einem extrem hohen Automatisierungsgrad. Alles ist spezialisiert. Der hohe Automatisierungsgrad verhindert, flexibel zu sein. Dazu müsste die Programmierung der gesamten Anlage geändert werden, um etwas auch nur geringfügig anderes zu produzieren. Alle Prozesse sind aus Geschwindigkeitsgründen optimiert und für schnelle Roboter-Bewegungen ausgelegt (60-Sekunden-Taktung). Dabei wird der Verfahrweg für die hohe Geschwindigkeit optimiert. Langsamere Taktung bedeutet anderer Verfahrweg.

„Alles ist aufeinander abgestimmt. Hier kann man nicht heute dies und morgen das produzieren, ohne einen enormen finanziellen und zeitlichen Aufwand zu provozieren“, erklärt Dirzus. „Allein der Aufbau einer Produktionshalle für den Rohbau kostet rund eine halbe Mrd. Euro. Sollte das Nachfolgemodell produziert werden, sind bereits immense Umbaukosten notwendig. Und das alles, um danach möglichst günstig in hohen Stückzahlen produzieren zu können“.

Wenn am Produkt etwas deutlich geändert wird, werden die produktgetriebenen Bereiche komplett neu aufgebaut, um effizient und kostengünstig zu produzieren. In den Montagebereichen ist man flexibler, dabei ist ein wichtiger Baustein die Logistik. Autonome Fahrsysteme wären eine Möglichkeit, um in der Montage noch flexibler zu werden. Aber derartige Systeme brauchen enorm viel Platz und sind derzeit einfach zu teuer. Wenn man also in der Montage noch flexibler produzieren wollte, würde man mehr Fläche benötigen. Das hätte wiederum höhere Struktur- und damit Produktionskosten zur Folge.

Was nehmen wir aus dieser Krise mit?

„Wenn wir es schaffen, über den Tellerrand zu schauen, die Unternehmen zu motivieren, ernsthaft über das Rapid-Business-Ecosystem-Design nachzudenken, also ad hoc über Plattformen neue Wertschöpfungsketten zusammenzustellen, um dringend benötigte Produkte herzustellen und Märkte schneller zu erfassen, dann wären wir einen großen Schritt weiter“, führt Dirzus aus. Mit dem Verständnis, „mehr Kooperation zu wagen, agiler auf Einflüsse zu reagieren, hätten wir demzufolge ein nachhaltiges Learning aus der weltweiten Krise mitgenommen. Und Unternehmen wären resilienter gegenüber Störungen – seien es nun Pandemien, wirtschaftliche Krisen oder Unterbrechungen der globalen Supply Chains". 

Globale Vernetzung scheitert, sobald andere Interessen in den Vordergrund rücken. Vor Monaten wurden Desinfektionsmittel bestellt; aber das wird jetzt aus gegebenem Anlass konfisziert. In Kenia am Flughafen sind sechs Mio. Atemmasken abhanden gekommen, die eigentlich ihren Weg nach Deutschland finden sollten. Sie sind selbstverständlich nicht verschwunden, sondern es hat sie jemand anders in seinen Besitz gebracht. Das bedeutet, dass in Zukunft systemrelevante Stoffe in Deutschland hergestellt werden müssen – vielleicht nicht permanent, aber die Flexibilität muss geschaffen werden, um relevante Produkte und Komponenten jederzeit herstellen zu können. Denn wie einst ein berühmter Comic-Held festgestellt hat: Mit großer Macht kommt große Verantwortung.

Autor: Frank Magdans

Grafik: Sonja Bosso

Ansprechpartnerin im VDI:
Dr.-Ing. Dagmar Dirzus
VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik
E-Mail-Adresse: dirzus@vdi.de

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