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Strom auf Güterwagen

Weg vom „dummen Stück Stahl"

Während elektrische und elektronische Geräte den Alltag dominieren, sind Güterwagen bis heute elektrotechnisches Niemandsland. Sie fahren ohne Strom und nicht vernetzt. Im Personenverkehr hat die Nutzlast „Mensch“ hohe Anforderungen an Komfort und Information, sodass Strom dort selbstverständlich ist.

In der Folge entstanden High-Tech-Züge mit elektronisch gesteuerter Bremse und vielen Funktionen, die den Betrieb schnell und personalsparend machen, wie zum Beispiel automatische Türsteuerungen, automatische Bremsproben oder die integrierte Zugintegritätsprüfung.

Ganz anders im Schienengüterverkehr (SGV): Die Ladung ist vergleichsweise anspruchslos und kommt ohne Licht und meist ohne Klimatisierung aus. Mit ihr lässt sich keine elektrische Grundausstattung wirtschaftlich rechtfertigen. Die Güterwagenbremse funktioniert mit Druckluft zufriedenstellend und ist durch ihre „fail-safe“-Konzeption sogar intrinsisch sicher. Ohne Strom bleibt der Güterwagen aber ein „dummes Stück Stahl“, der für Massenguttransporte in Ganzzügen gut geeignet ist, die Anforderungen der modernen Logistik jedoch nur noch unzureichend erfüllt.

Mehr Transport auf der Schiene, um Klimaziele zu erreichen

Lange glaubte man „der Lkw wird‘s schon richten“ und die Zukunft des Straßengüterverkehrs sei durch Batterien, Oberleitungen und Wasserstoff so grün und durch autonomes Fahren und Platooning (mehrere Lkw fahren automatisiert in kurzem Abstand hintereinander) so personaleffizient, dass sich die Güterbahn ohne dramatische Auswirkungen in die Segmente „Ganzzug“ und „kombinierter Verkehr“ zurückziehen könnte. 

Inzwischen ist klar, dass ohne eine dramatische Zunahme des Schienenanteils die vom Verkehr schnell geforderten CO2-Einsparziele nicht zu erreichen sind. Ein Ausbau der Schieneninfrastruktur ist unabwendbar, benötigt aber viel mehr Zeit, als uns die Klimawissenschaft zugestehen kann. Kurz- und mittelfristig müssen Güterzüge länger und schneller werden. Der Schienengüterverkehr muss intelligent werden, um die hochwertige Logistik zurückzuerobern, und er muss wieder die Fläche erreichen. Alle vier Teilziele erfordern technologisch höherwertige Funktionen, die ohne Elektrifizierung von Güterwagen nicht realisierbar sind.

Beispiel: Eine Bremsprobe an einem 700 m langen Zug dauert bereits knapp eine Stunde, in der ein Mensch mehrfach die gesamte Zuglänge abgeht. Seit 2016 fahren auf einigen Strecken bereits Züge mit einer Länge von 825 m, 1.500 m Zuglänge sind konkret in Planung. 

Wo ist die Kapazität an Infrastruktur und Personal, um solche Züge noch manuell abfahrbereit zu machen? Außerdem: Je länger der Zug, desto länger die pneumatische „Durchschlagzeit“, bis die letzte Bremse reagiert. Damit Züge nicht nur länger werden, sondern auch zumindest so schnell fahren wie heute, ist eine elektrisch vorgesteuerte Bremse unabdingbar. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Strom muss auf den Güterwagen, aber wie? Und wer soll für die Kosten aufkommen?

„Henne-Ei-Problem“ lösen

Wie lässt sich die negative „Henne-Ei“-Wirkungskette aufbrechen?

  • Der Schienengüterverkehr wird wegen technologischer Defizite speziell beim Güterwagen zunehmend von der modernen Logistik abgehängt.
  • Die technologische Weiterentwicklung der Güterwagentechnik stagniert wegen fehlender Stromversorgung.
  • Die Stromversorgung setzt sich wegen fehlenden Anwendungen und fehlender Standardisierung nicht durch.

Der VDI sollte in seiner Rolle als Herausgeber von „anerkannten Regeln der Technik“ einen Vorschlag zur Definition einer Basisstromversorgung für Güterwagen erarbeiten. Eine Vereinbarung über Systemstruktur und wichtigste Parameter eines Güterwagen-Bordnetzes soll für Entwickler, Hersteller und Betreiber Planbarkeit und Investitionssicherheit bieten. Dies fördert die Entstehung eines offenen Markts für güterwagentaugliche elektrische Automatisierungstechnik. So sinken letztlich nicht nur die Kosten der Ausstattung, es macht Strom auf dem Güterwagen vor allem zu dem, was er auf dem Lkw schon lange ist: zur Selbstverständlichkeit.

VDI 5905 beschreibt Schnittstellen

Elektrische Funktionen auf Güterwagen sind durchaus vorhanden. Bis heute muss aber jede Funktion ihre Stromversorgung selbst mitbringen. So werden Telematiksysteme, die Standort- und Zustandsmeldungen der Güterwagen für den Kunden in Internetportalen verfügbar machen, bis heute meist mit Batterien betrieben, was ihre Leistungsfähigkeit stark einschränkt. Für Züge mit Kühlcontainern sind Speziallösungen entstanden, bei denen die Kühlaggregate mit handgekuppelten Starkstromleitungen („Zugsammelschiene“) aus Lokomotiven gespeist werden. Systeme zur automatischen Beladungskontrolle und zur automatischen Bremsprobe verfügen über Generatoren, die in Achsdeckel integriert werden. Keines der Systeme ist für das jeweils andere von Nutzen.

Um den Bereich die Automatisierung der Zugbildung voranzubringen, wird ein Bordnetz benötigt, das Kommunikationstechnik (Güterzug-Datenbus), informationsverarbeitende Geräte der Automatisierungstechnik und Stellantriebe kleiner und mittlerer Leistung versorgt. 

Mit der Richtlinie VDI 5905 Blatt 1 E (2021-09) „Schnittstellen aktiver kooperierender Güterwagen – Stromversorgung“ existiert bereits ein erster Aufschlag zum Thema „Schnittstellen aktiver, kooperierender Güterwagen“.

Autoren: 
Daniela Wilbring, M.Eng., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Aachen
Professor Dr.-Ing. Manfred Enning, Lehrgebiet Bahnsystemtechnik der Fachhochschule Aachen, Mitglied im Fachbeirat Bahntechnik der VDI-FVT

Der komplette Artikel ist ursprünglich in der ATZExtra, Heft 2-2021, erschienen.

Ansprechpartner:
Dipl.-Ing. Simon Jäckel
VDI-Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik (VDI-FVT)
E-Mail-Adresse: jaeckel@vdi.de

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