Direkt zum Inhalt
Plattform „Chemistry4Climate“ von VDI und VCI

„Die Chemiebranche kann und will die Klimaziele erreichen“

Bild: 24Novembers/Shutterstock.com

Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland macht Tempo auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität: Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) und der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) haben den Aufbau der gemeinsamen Plattform „Chemistry4Climate“ beschlossen. Dort wollen sie mit einem breit aufgestellten Expertenkreis künftig Vorschläge diskutieren und konkrete Konzepte erarbeiten, wie die Chemie und Teile ihrer Wertschöpfungskette bis 2050 treibhausgasneutral werden.

VDI: Wie lässt sich dieser Plan Ihrer Meinung nach verwirklichen?

Ljuba Woppowa: Wir haben gemeinsam mit dem VCI die Plattform Chemistry4Climate ins Leben gerufen, weil Klimaschutz für den Verein Deutscher Ingenieure eines der wichtigsten – und auch herausforderndsten Themen ist. Im Rahmen der Plattform arbeiten wir Ingenieurinnen und Ingenieure an Lösungen, die zu einer Reduktion des CO2-Fußabdrucks beitragen. 

Wenn wir es schaffen, gemeinsam konkrete Konzepte für die Chemie zu erarbeiten, legen wir die Basis dafür, dass auch andere Branchen und die Gesellschaft diese Transformation schaffen. Mit unserer C4C-Plattform wollen wir daher bewusst eine Vorreiterfunktion einnehmen und haben uns hohe Ziele gesetzt.

Erste Workshops haben im Rahmen der Plattform bereits stattgefunden. Was waren die Ergebnisse?

Woppowa: Die gute Nachricht vorab: Die Chemie will und kann die ehrgeizigen Klimaziele erreichen. Das muss sie auch, wenn sie 2050 noch in Deutschland und Europa produzieren möchte. Die Branche ist bereit, dafür große Anstrengungen zu unternehmen. Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass für eine treibhausgasneutrale Produktion richtungsweisende Innovationen und große Investments notwendig sind.

Das kann nur gemeinsam gelingen. Die Bereitschaft auch zu branchenübergreifenden Kooperationen ist groß, da alle dasselbe Ziel haben – nämlich Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu erhalten.

Der VCI hat vor einem Jahr als erste energieintensive Industriebranche eine Roadmap vorgelegt, wie die Chemie bis spätestens 2050 treibhausgasneutral werden kann. Diese Roadmap hat aber auch eine Fülle von Fragen aufgeworfen und große Herausforderungen beschrieben, die nun in den ersten drei Workshops intensiv diskutiert wurden.

Welche Aspekte wurden bei der Diskussion genauer betrachtet?

Woppowa: Technologische, ökonomische und regulatorische Aspekte. Technologisch stehen u.a. der immense Bedarf an Erneuerbaren Energien im Mittelpunkt. Ich möchte dies am Beispiel eines Crackers deutlich machen:

Ein Cracker ist eine riesige Anlage zur Stoffumwandlung in der Erdölverarbeitung. Beim Cracken werden längerkettige Kohlenwasserstoffe in kurzkettige Kohlenwasserstoffe gespalten. Dies ist notwendig, weil der Markt mehr kurzkettige Kohlenwasserstoffe (Benzin, Diesel, leichtes Heizöl) benötigt, als im Erdöl enthalten sind. Thermisches Cracken ist auch Ausgangspunkt für die Kunststoffherstellung in der Polymer-Industrie. Dabei werden Kohlenwasserstofffraktionen unter Druck auf 450 bis 900 °C erhitzt. Man kann sich gut vorstellen, dass dafür Unmengen Energie benötigt werden. Bislang werden Cracker fossil beheizt. Im Zuge der Dekarbonisierung sollen Cracker künftig mit regenerativem Strom elektrisch beheizt werden. Ein Cracker benötigt dann eine elektrische Anschlussleistung von circa einem Gigawatt – dies sind bisher nicht gekannte Netzanschlussleistungen.

Weiterhin prognostiziert die VCI-Roadmap, dass die deutsche Chemie 2050 einen Strombedarf von über 630 Terrawattstunden (TWh) haben wird, wenn sie 2050 treibhausgasneutral sein will. Zum Vergleich liegt der jährliche Stromverbrauch von Berlin einschließlich aller Haushalte, Handel, produzierendem Gewerbe und Verkehr in den letzten Jahren durchschnittlich bei circa 13 TWh. Von unserer eigenen Stromrechnung wissen wir, dass der jährliche Stromverbrauch eines 4-Personen-Haushalts ca. 4.000 kWh beträgt. Aufgabe der Plattform Chemistry4Climate ist es also, Lösungen dafür zu finden, wie die benötigen Strommengen hergestellt werden können – und auch, wie der Strom zu den Verbrauchern gelangt.

Ökonomisch besteht die besondere Herausforderung im Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Wenn der von der VCI-Roadmap prognostizierte jährliche Strombedarf von 630 TWh über erneuerbare Energie gedeckt werden soll, dann werden dafür geschätzte 45 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen notwendig. Experten schätzen außerdem, dass es einer Vorlaufzeit ca. 15 Jahren bedarf, um eine für diese Strombedarfe benötigte Infrastruktur zu bauen.

Zusätzlich sind geeignete regulatorische Rahmenbedingungen erforderlich, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bei dem benötigten Investitionsumfang zu erhalten. Expert*innen befürchten sowohl steigende Strompreise als auch eine Gefährdung der Versorgungssicherheit bei einem gleichzeitigen Ausstieg aus Kohlekraft und Kernenergie. Zudem sind die technologischen Erfordernisse auch im Hinblick auf erneuerbare Energien, z.B. der Platzbedarf von Windkraftanlagen, mit Umwelt- und Naturschutz in Einklang zu bringen. Und der absehbare Bedarf an grünem Wasserstoff erfordert Auf- und Ausbau einer Wasserstoff-Infrastruktur und einen diskriminierungsfreien Zugang. Dies sind alles wichtige Aspekte einer zukünftigen Regulierung.

Auf welche konkreten Lösungsvorschläge konzentriert sich die Plattform als nächstes?

Woppowa: Um die großen Herausforderungen zu bewältigen, müssen alle Möglichkeiten neutral und technologieoffen diskutiert und bewertet werden. Dazu gehören einerseits Technologien, die die zirkuläre Wertschöpfung stärken sowie verstärkte Nutzung von Biomasse. Diese Technologien werden in der Gesellschaft häufig als Hoffnungsträger angesehen.

Andererseits müssen auch Technologien diskutiert werden, denen die Bevölkerung mit großer Skepsis begegnet, wie z.B. Carbon Capture and Utilization (CCU), d.h. die technologische Nutzung von Kohlendioxid als Rohstoff. Dazu gehört auch die umstrittene Technologie des Carbon Capture and Storage (CCS). Dabei wird das abgeschiedene CO2 zunächst behälterlos im Erdreich gespeichert, bevor es weitere Verwendung als chemischer Rohstoff findet.

Weil viele verschiedene Aufgaben von großer gesellschaftlicher Bedeutung gelöst werden müssen, haben wir die C4C-Plattform mit Expertinnen und Experten der Chemie- und Energie-Branche sowie von Umweltorganisationen gegründet. Darüber hinaus stehen wir in engem Austausch mit anderen Branchen und Verbänden. Aktuell identifizieren wir Fragestellungen und Konfliktpunkte, die wir in den kommenden Jahren bearbeiten werden.

Fachliche Ansprechpartnerin:
Dr. rer.nat. Ljuba Woppowa
Geschäftsführerin der 
VDI-Gesellschaft Verfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen
E-Mail: woppowa@vdi.de

Artikel teilen