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Richtlinie VDI 4520

Produktmanagement im interdisziplinären Innovationsprozess

Bild: courtneyk/E+ via Getty Images

Wir befinden uns in einer turbulenten Zeit, in der sich die Kundenbedürfnisse und Märkte stetig verändern, die Konkurrenz rasant verbessert und Technologien immer schneller entwickeln. In der jüngsten Vergangenheit hat die globale Pandemie die Relevanz von Innovationen und Digitalisierung erneut aufgezeigt. Und schließlich befinden wir uns in der Phase der sogenannten vierten industriellen Revolution.

Revolution bedeutet hier: schnelle technologische Veränderungen oder Anpassung von Geschäftsmodellen in relativ kurzer Zeit. Aus diesem Grund wird deutlich, was in der heutigen Zeit notwendiger ist denn je: die Expertise, Innovationen erfolgbringend am Markt einzuführen, um wettbewerbsfähig zu bleiben hinsichtlich Kostenführerschaft oder Leistungsdifferenzierung. Innovationen fallen aber nicht vom Himmel. Sie sind vielmehr Resultat einer zielgerichteten, interdisziplinären Zusammenarbeit aller am Wertschöpfungsprozess beteiligter Bereiche eines Unternehmens. Ein wichtiger erfolgskritischer Faktor ist hier der Produktentstehungsprozess. Die Richtlinienreihe VDI 4520 "Produktmanagement" beschreibt und dokumentiert diesen Prozess sowohl aus der Unternehmensperspektive als auch aus der Marktperspektive. Alle Methoden und Verfahren zur systematischen Steuerung des Produktlebenszyklus von der innovativen Produktidee über die Markteinführung bis zur Produkteliminierung sind hier beschrieben. Sie bietet deshalb jedem Unternehmen eine methodische Anleitung für mehr Orientierung und Transparenz. Dieser Einschätzung liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass ein Prozess nur dann funktioniert, wenn er dokumentiert ist.

Der Innovationsbegriff in der betriebswirtschaftlichen Forschung

In der betriebswirtschaftlichen Forschung gibt es keine einheitliche Definition des Innovationsbegriffs. Einige Attribuierungen tauchen jedoch vermehrt auf. Demnach sind Innovationen neue und neuartige Produkte, Verfahren, Dienstleistungen und Systeme, die sich qualitativ von den Vorgängern unterscheiden und technische und ökonomische Verbesserungen mit sich bringen. Die Innovation ist also das Resultat aus dem vorgelagertem Innovationsprozess, der aus mehreren unterschiedlichen Phasen besteht, wobei der Begriff 'Prozess' als eine Abfolge von einzelnen Schritten definiert ist. Eingaben in die Prozesse werden durch die Abarbeitung der Schritte in Prozess-Ergebnisse umgewandelt. 

Eine prominente Best-Practice-Methode ist der Stage-Gate-Prozess, welcher von Cooper und Edgett entwickelt wurde. Kennzeichnend ist hierbei die Unterteilung in Stages und Gates. Auf den Stages läuft der eigentliche Innovationsprozess mit der Leistungserstellung ab. Die Gates folgen nach den Stages und dienen als Kontrollpunkt, an dem ein interdisziplinäres Team nach ausgewählten Kriterien entscheidet, ob das Vorhaben fortgeführt oder beendet wird. Typische Stages sind beispielsweise die Überprüfung der Idee, die Machbarkeitsstudie, Lasten- und Pflichtenheft, die Produktentwicklung, die Produktvalidierung und die Markteinführung. In einer von den Autoren im wirtschaftlichen Kontext durchgeführten Studie wird eindrucksvoll die Bedeutung eines robusten Prozesses für die Innovationsleistung und damit den Erfolg eines Unternehmens belegt.

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Industriedesign aus der Praxis

Die Rolle des Produktmanagements

Innovationsmanagement wird allgemein als ein interdisziplinärer Prozess innerhalb der Wertschöpfungskette angesehen, bei dem viele Akteure beteiligt sind: Lieferanten, Entwicklung, Fertigung, Vertrieb, Service und nicht zuletzt auch die Kundenseite. Das Produktmanagement bildet hier allerdings ein wichtiges Fundament, da es bei den Wertschöpfungsprozessen der Leistungsgestaltung, Leistungserstellung und Leistungsvermarktung im Unternehmen beteiligt ist und gleichzeitig in allen Phasen der Produktentstehung die Kundenorientierung gewährleistet. Die Hauptaufgaben sind: das Analysieren, um eine Informationsgrundlage zu schaffen, das Konzipieren von neuen Produkten und Innovationen, sowie die Koordinierung aller Schritte, die dazu führen, dass ein neues Produkt erfolgreich und termingerecht den Markt erreicht. Eine weitere wichtige, interdisziplinäre Aufgabe ist die Koordinierung der unterschiedlichen Unternehmensbereiche wie Vertrieb, Entwicklung und Service. Typischerweise agieren Produktmanager und -managerinnen über die gesamte Projektdauer mit einem „All-Operation-Team“, das alle Funktionsbereiche eines Unternehmens matrixmäßig abdeckt. 

Oftmals werden Produktmanager*innen als Unternehmer*innen im Unternehmen bezeichnet, da sie maßgeblich verantwortlich sind für den Markterfolg eines Produktes. Voraussetzung dafür ist, dass sie die Kundenbedürfnisse verstehen und spezifisches Wissen über die Marktsituation haben. Dies kann auch als Kernkompetenz des Produktmanagers/der Produktmanagerin herausgestellt werden. Insgesamt kann das Produktmanagement insofern als ein wichtiger Baustein für den Innovationsprozess angesehen werden.

Wie muss sich der Innovationsprozess zukünftig verändern?

Wertet man die aktuelle Literatur aus, so kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass folgende Attribute als erfolgskritisch für einen zukünftigen Innovationsprozess gewertet werden. Die Integration der Kundenseite in den Innovationsprozess wird zunehmend wichtiger, denn letztlich entscheidet sie, ob Produkte oder Dienstleistungen sich qualitativ von den Vorgängern unterscheiden und technische und ökonomische Verbesserungen mit sich bringen. Kunden können hierbei als „Innovationstreiber“ fungieren. Ihnen stehen verschiedene Möglichkeiten offen, wie zum Beispiel direkt an Produktanpassungen mitzuwirken. Zusätzlich können sie neue Produkte, Inhalte oder Dienstleistungen für spezifische Bedarfe, die vom Unternehmen bisher nicht gesehen wurden, mitgestalten. Durch die Digitalisierung und das Internet ergibt sich eine optimale Infrastruktur, um die Mitwirkung am Innovationsprozess zu optimieren.

Eine weitere wichtige und unterstützende Komponente des Innovationsprozesses ist das Portfoliomanagement. Zum einen wird damit gewährleistet, dass die verfügbaren Ressourcen zielführend eingesetzt werden und zum anderen, dass die Innovationsprojekte hinsichtlich ihres Erfolges priorisiert werden. Risiken und Konflikte können entstehen, wenn die Anzahl der Innovationsprojekte zu hoch ist und nicht eindeutig zugeteilt werden kann, welche zweckmäßig finanziert werden und welche nicht. Die Kunst liegt hier im Entwickeln eines ausgewogenen Portfolios, welches die Innovationsprojekte bezüglich des Risikos und ihrer Dauer so auswählt, dass eine effiziente Mittelverwendung sichergestellt wird. Wesentlicher Erfolgsfaktor ist hierbei die Kenntnis über die allgemeine Marktentwicklung sowie über Wettbewerber und die Leistungsmerkmale von deren Produkten.

Nachhaltigkeit und Interoperabilität nehmen an Bedeutung zu

Bei zunehmend verkürzten Produktlebenszyklen gewinnt insofern die organisationale Ambidextrie mehr und mehr an Bedeutung. Darunter versteht man das balancierte Verhältnis vom Nutzen des bereits vorhandenen Wissens und der Kompetenzen einerseits und dem Erforschen von vollständig Neuem andererseits. Im Zusammenhang mit der digitalen Transformation bedeutet Ambidextrie für Unternehmen, die bereits vorhandenen Kompetenzen aus dem Kerngeschäft weiterzuentwickeln und diese mit den radikal neuen technologischen Entwicklungen zu verknüpfen. Produktmanager*innen sind hier die idealen Moderatoren*innen in diesem Prozess, da sie die sich stetig ändernden Anforderungen der Kunden kennen und Marktentwicklungen bewerten können. Es gewährleistet das innovative und das vorausschauende Handeln.

Ein Blick in die Zukunft zeigt aber auch, dass die Themen Nachhaltigkeit und Interoperabilität an Bedeutung zunehmen werden und sie deshalb bei der Definition neuer innovativer Produkte berücksichtigt werden müssen. Nachhaltigkeit in diesem Kontext beutet die Umsetzung ökologeischer, ökonomischer und sozialer Ziele bei der Produktentwicklung. Unter Interoperabilität wird hier die Schaffung von Voraussetzung zum Austausch von Daten zwischen Produkten verschiedener Anbieter verstanden, der in der Produktionsumgebung einer Smart Factory (Intelligente Fabrik) notwendig ist. Nachhaltigkeit und Interoperabilität sind neue Parameter, an denen die Innovationsleistung zukünftig gemessen wird. Die Aufgabe des Produktmanagements besteht hier darin, die diesbezüglichen Bedarfe der Zielkunden und-kundinnen durch Marktforschung festzustellen.

Obwohl die Berücksichtigung dieser Faktoren den Unternehmenserfolg nachhaltig verbessern können, ist jedes Unternehmen auch individuell zu betrachten und die genannten Faktoren sollten an die jeweiligen spezifischen Bedürfnisse angepasst werden. Den zentralen Anker bildet hier insbesondere das Produktmanagement, da diese Institution prädestiniert ist für die Erfüllung der neuen Anforderungen. 

Die in diesem Artikel ausgeführten Überlegungen lassen den Schluss zu, dass die Richtlinienreihe VDI 4520 "Produktmanagement" eine Orientierung und Transparenz in allen Phasen der systematischen Produktentwicklung als Bestandteil eines interdisziplinären Innovationsprozess liefert.

Autoren: Arabella Bossiade, Frank Häuser

Fachliche Ansprechpartnerin im VDI:
Dr.-Ing. Daniela Hein
VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung
E-Mail: hein@vdi.de

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