Direkt zum Inhalt
Ingenieurarbeitsmarkt

Die Zeitenwende fordert Antworten

Die Digitalisierung hat auch schöpferische Elemente: Wer seinen Blick auf Veränderungen und Chancen richtet, wird seinen Platz auf dem Arbeitsmarkt finden.

In der Wirtschaftswelt knistert und kriselt es. Auf den Märkten wird aus Globalisierung Abschottung. Und dennoch: „Die Beschäftigung bleibt robust gegenüber dem Wirtschaftsabschwung und wird auch 2020 neue Rekorde aufstellen“, sagt Enzo Weber, Leiter des Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Die Arbeitslosigkeit könne zwar leicht steigen, die Dynamik beim Beschäftigungsaufbau verhindere aber, dass die konjunkturelle Schwäche noch stärker durchschlägt. Wenn die konjunkturabhängigen Branchen nach Ende des Abschwungs erneut anzögen, werde auch der Abbau der Arbeitslosigkeit wieder in Gang kommen.

Hinzu kommt, dass die Babyboomer bald in Rente gehen und ein großes Loch auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen – wenn nicht gegengesteuert wird. Laut VDI werden bis 2029 über 700.000 Ingenieur*innen altersbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden. Weiterbildung, Zuwanderung und Digitalisierung sind die Stichworte, die im Zusammenhang mit der Lösung des Problems fallen. Auch wenn die Technik dem Menschen zunehmend mehr (unangenehme) Arbeit abnehmen wird, werden weder ein Roboter die Häuserwand mauern noch eine Maschine die Infusion setzen können. Und Kindererziehung wird nicht über VR-Brillen vermittelt. Der Bedarf an Technikfachleuten wird im Dienstleistungssektor steigen, Ingenieur*innen bietet sich hier ein breites Betätigungsfeld. Plattformen werden an Bedeutung gewinnen, Data Scientists gehört laut breiter Expertenmeinung die Zukunft.

Soziale Kompetenzen im Blick

Die Rahmenbedingungen bieten auf jeden Fall gute Voraussetzungen. „Ingenieur*innen fanden auch 2019 einen guten Arbeitsmarkt vor“, so Ralf Beckmann von der Bundesagentur für Arbeit. „Sowohl der Bestand an gemeldeten Stellen als auch der Zugang an neuen Stellenangeboten, der besser das Nachfragevolumen eines Jahres beschreibt, fallen zwar – im Kontext der schwachen Konjunktur und der Turbulenzen in der Automobilbranche – niedriger aus als im Jahr 2018. Sie sind jedoch noch auf einem hohen Niveau.“

Besetzungsprobleme traten laut Bundesagentur für Arbeit vor allem in der Automatisierungstechnik und der technischen Forschung und Entwicklung zu Tage. Im Maschinenbau haben die kontinuierlich gestiegenen Absolvent*innenzahlen und die zuletzt schwache Konjunktur dazu geführt, dass kein Fachkräftemangel mehr erkennbar ist. Beckmann: „Der Trend zur Höherqualifizierung und die hohe Studierendenzahl dürften das Fachkräftepotenzial auch weiter steigen lassen.“

Ingenieur*innen werden sich – wie sie es ja immer schon getan haben – mit den neuesten technologischen Innovationen vertraut machen müssen. Allerdings reichen die Qualifikationen aus dem Erststudium nicht mehr, um dieser Anforderung nachzukommen. Nur durch permanentes Lernen bleibt der Experte Experte. „Weil sich mit der Digitalisierung aber auch die Art und Weise verändert, wie man arbeitet, ist es nicht nur wichtig, digitale Kompetenzen zu stärken, sondern auch soziale Kompetenzen wie Kooperationsbereitschaft, Kommunikationsstärke, Selbstmanagement oder Empathie“, heißt es aus dem IAB.

IT-Ingenieur*innen gehört die Zukunft

Das klingt nach Eier legender Wollmilchsau – ist aber nicht so gemeint. Niemand ist auf allen Gebieten spitze. Wer jedoch als Spezialist*in die Zukunft in Angriff nehmen will, kommt nicht umhin, sich über die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien im Klaren sein. Dazu bedarf es zuweilen externer Hilfe oder einer „Über-den-Tellerrand-Bildung“. Es werde zunehmend zu sogenannten Hybridberufen kommen, prophezeit Britta Matthes, die beim IAB die Forschungsgruppe „Berufliche Arbeitsmärkte“ leitet, gegenüber den VDI nachrichten. „Die Kombination von mindestens zwei unterschiedlichen Fachrichtungen wird gang und gäbe sein. Es müssen nicht zwangsläufig zwei technische Disziplinen sein.“ Auch Maschinenbau und Betriebswirtschaft oder IT und Sozialwissenschaften seien denkbar. Das stellt nicht nur neue Herausforderungen an das Berufsleben, sondern auch an die akademische Grund- und Weiterbildung.

Wenn hier von Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperationen die Rede ist, gehören zwei Kompetenzen auf jeden Fall in die Rubrik „Das muss mit!“. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Frankeconsult im Auftrag der VDI nachrichten sind die meistgesuchten technischen Fachkräfte diejenigen, die die Fähigkeiten der Disziplinen Ingenieurwissenschaften und IT miteinander vereinigen. Dabei ist eine ingenieurwissenschaftliche Grundlage noch vielversprechender als ein reines IT-Studium.

Autos nicht mehr „von der Stange“

Dass die Zukunft nicht planbar ist wie ein Hausbau, liegt auf der Hand, sie ist aber gestaltbar. Und genau da setzt Ingo Rauhut an. „Auch der nächste Technologiesprung eröffnet Chancen auf für neue Wertschöpfung und damit neue Tätigkeitsfelder. Die digitale Transformation wird zwar infrage stellen, wie wir arbeiten, nicht jedoch, dass wir arbeiten.“ Für den Arbeitsmarktexperten des VDI ist die Frage der Anpassungsfähigkeit entscheidend. Rauhut schildert das am Beispiel der Automobilindustrie, in der neue ökologische Anforderungen einher gingen mit neuen Produktionsweisen und der Entwicklung entsprechender Geschäftsmodelle. Autos kämen künftig nicht mehr „von der Stange“, sondern würden zu individuellen Wunschprodukten und wären untereinander vernetzt. 

„Es scheint absehbar, dass Automobilkonzerne in Zukunft nicht mehr erfolgreich sein werden, wenn sie sich auf Produktion und Verkauf beschränken“, meint Rauhut. Sie müssen sich vom reinen Autohersteller zum Mobilitätsdienstleister weiterentwickeln.“ Die Digitalisierung ermögliche nicht nur neue Geschäftsmodelle, sie erfordere sie geradezu, etwa App-gestütztes Car-Sharing, Mitfahrmodelle oder die Vermittlung privater Fahrdienste. 

Technologischen und gesellschaftlichen Stillstand werde es nicht geben, daher werden Ingenieur*innen gesucht, deren technischer Sachverstand neue Geschäftsmodelle mitdenken. Rauhut weiß um die weiterhin große Bedeutung klassischer Ingenieurkompetenzen, weist aber dringlich auf neue Herausforderungen hin. Er fasst zusammen: „Die Industrie braucht Menschen, die über die Kompetenz verfügen, digitale Daten zu erfassen, sie in einen Kontext einzubetten und sie im Hinblick auf die (Weiter-) Entwicklung von digitalen Prozessen, digitalen Produkten und digitalen Geschäftsmodellen zu analysieren, um damit aus ihnen einen digitalen Mehrwert zu erzeugen.“

Interdisziplinarität entscheidet Wettbewerb

Sarah-Jayne Williams, Director Smart Mobility Ford of Europe, bestätigt aus der Sicht der Automobilmanagerin, was Rauhut der Branche prophezeit. Voraussetzung, um die Entwicklung steuern und begleiten zu können, sei es, Trends zu erkennen. Ein Auto noch schneller, geräumiger und komfortabler zu machen, werde künftig nicht mehr größte Priorität haben. Die fortschreitende Urbanisierung und das Umweltbewusstsein der Menschen setzten dem Autoabsatz Grenzen und schließlich trüge die Digitalisierung dazu bei, dass der Besitz eines eigenen Wagens an Bedeutung verliere. Williams: „Warum soll man sich in Zeiten, in denen alles vernetzt ist, die Kosten eines Autos antun. Immer mehr Autos herzustellen, kann nicht das Geschäftsmodell der Zukunft sein.“ Wenn vernetzte Leitverkehrssysteme diverse Transportmittel miteinander verbinden und Menschen durch die Städte lotsen, müsste Ford in diesem System der Zukunft mitmischen. 

Für die Ford-Managerin ist klar, dass Ingenieure künftig viel mehr in Dienstleistungskategorien denken müssen und auch das Silodenken innerhalb eines Unternehmens bald der Vergangenheit angehöre. Interdisziplinarität sei nicht nur eine Frage der Fachbereiche, sondern auch des Wettbewerbs, in dem Konkurrenten Informationen austauschen.

Attraktive Studienangebote für Frauen

Für die Ingenieurausbildung bzw. die Hochschulen bedeutet die Entwicklung, sich auch als Weiterbildner anzubieten. Fakultäten müssen darüber hinaus Vorbehalte abbauen und sich aufeinander zubewegen. Auch hier liegt eine Riesenchance. Wie das IAB im vergangenen Jahr herausfand, zieht die Verzahnung der Disziplinen viel mehr Frauen an als die klassischen Ingenieurfächer. „Studiengänge wie Raumplanung, Medizinische Informatik, Geoökologie oder Umwelttechnik lassen ... bereits in ihrer Bezeichnung eine gestalterisch-kreative, ökologische oder medizinisch-gesundheitliche Ausrichtung erkennen, was sie für Frauen besonders interessant zu machen scheint“, heißt es. Dass kleinere, spezialisierte und/oder interdisziplinär ausgerichtete Studienangebote bei Arbeitgebern auf Gegenliebe stoßen, sei allerdings noch nicht nachgewiesen. 

Zweifel an Flexibilität und Agilität der Unternehmen sind angebracht. Eine Studie des Personaldienstleisters Hays hat ergeben, dass viele Firmen die Zeitenwende noch nicht erkannt haben. „Der Fachkräftemangel stellt vor allem für die Unternehmen eine Bedrohung dar, die nicht willens sind, die neuen Realitäten am Arbeitsmarkt anzuerkennen oder sich an die neue Lage anzupassen“, lautet das Fazit der Studie. Hays-Marketing-Chef Frank Schabel appelliert an die Unternehmen: „Es mag kurzfristig entlastend sein, lautstark über den Fachkräftemangel zu wehklagen. Mittel- und langfristig scheint es jedoch die bessere Strategie zu sein, das Heft in die eigene Hand zu nehmen und Antworten für ihr Unternehmen zu entwickeln.“

Autor: Wolfgang Schmitz

Fachlicher Ansprechpartner:
Ingo Rauhut
E-Mail: rauhut@vdi.de

Artikel teilen